KTV-Jahrzehnt Rückblick: 2010 – Kein Dialog

Verdammt ist das lange her. Ein Glück habe ich mir in dem Jahr mein erstes Smartphone geholt! Jetzt kann ich ganz bequem zurückscrollen und mich erinnern (lassen).

Inzwischen schon Standard: 2010 geht mit schlechter Luft los. Und der Meldung, dass das HipHop Open nochmal in Mannheim stattfinden sollte.

Letztlich ist unser Lieblingsfestival ausgefallen! Grund dafür war die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika: Deutschland wird Dritter, Holland auf der Zwei, Spanien Weltmeister (Hab‘s nachgelesen, nicht mehr gewusst.)

Ich habe mir die komplette Fußballübertragung im Rocker33 angeschaut. Auf Premiumplätzen und mit der besten gegrillten Wurst (inklusive Discoseelsorge) im Innenhof vom H7.

H7? Rocker33? Das war der Club in der alten Bahndirektion, die jetzt auf Stelzen schwebt. Ihr könnt mit Ju aka Mister Santos und DJ Passion aka Ninetoes (zusammen Bassilleuro) nochmal durch das riesige Gebäude rennen – in alle Büros, Läden und Studios rein. Stuttgarter Subkultur 2010 im Zeitraffer. RAM und Außenreporter sind am Start und – Tschuldi! – die Auflösung von Videos war damals eben so.

In Jus Video (von Ende 2010) wird mit zwei Reimen angerissen, worum es in dem Jahr in Stuttgart wirklich ging: Die ersten Bauarbeiten für Stuttgart 21.

Im Februar episches „Prellbockanheben“, dann Demo, Schwabenstreich, Laufen FÜR Stuttgart 21, Demo, Baustellenblockade, haufenweise Bauzaun-Deko (inzwischen im Museum), Demo, Rumble in the Jungle, Mahnwache, Erschaffung des Wutbürgers, Demo, Dachbesetzung, der Nordflügel wird abgerissen.

Während dort der Bagger zubeißt, habe ich zum ersten Mal in Stuttgart eine Straße blockiert. Die Kommentarspalte kocht (mit der kessel.tv-Bezugsgruppe hat es übrigens nicht geklappt) und überhaupt hat 2010 uneinholbar die meisten Kommentare auf ktv ever generiert.

In den Wochen nach dem ersten Teilabriss am Bonatz-Bau, rücken die Arbeiten kontinuierlich Richtung Park vor. Es ist klar, dass ab dem 01.10.2010 dort Bäume gefällt werden dürfen.

Dagegen geht am Donnerstag, den 30.09. schon morgens eine Schülerdemo auf die Straße. Um 10:24 Uhr kommt bei Tausenden, die sich vorher dafür eingetragen haben, der Parkschützer-Alarm als SMS (!) an: „Sofort in den Park kommen.“ Dort ist alles voller Polizei in Aufstandsbekämpfungsausrüstung.

Gegen Mittag wird ein Wasserwerfer zum ersten Mal „Sprühregen“ abfeuern, später wird auf Köpfe gezielt und Menschen erleiden schwere Verletzungen an den Augen und im Gesicht.

https://www.kessel.tv/2010/09/reizgas-und-wasserwerfer/

Aller Protest hilft nichts. Kurz nach Mitternacht werden neben dem Biergarten die ersten großen Bäume gefällt, da wo heute durch blaue Rohre das Grundwasser gemanaged wird.

Die Bilder von den Verletzten sind überall in den Medien, am nächsten Abend sind Zehntausende gegen Polizeigewalt auf der Straße. Ministerpräsident Stefan Mappus, erst seit Anfang 2010 als Nachfolger von Günther Öttinger im Amt, wird in den Fernsehnachrichten von Marietta Slomka gegrillt.

„Es ging gestern darum, dass eine Baustelle abgesichert werden musste…“ sagt er und eigentlich geht es – bis heute – um viel mehr: Immobilien, Verkehrspolitik, Alternativlosigkeit, viele Milliarden Euro.

Empowerment haben die ganze Scheiße direkt vor Ort in ihrem Song „Konflikt“ knackig zusammengefasst:

Meine Zusammenfassung: Das Jahr 2010 hat für mich und meine Beziehung zu Stuttgart – trotz zerrissener Stadt, unvereinbaren Meinungen und Gewalt – alles entschieden. Der Kessel war lebendig (was nicht heißt, dass es davor kein politisches Engagement gab!).

Ich habe angefangen mich hier einzumischen. Das mache ich bis heute mit Blockiererinnen-Abzeichen in Gold und einer glatten Sechs in Diplomatie. Und bevor einer fragt: Ich gehe trotzdem regelmäßig „was schaffen“ – schließt sich nämlich nicht gegenseitig aus, dieses Demonstrieren und Wertschöpfen.

Ich habe 2010 so viele tolle Stuttgarter*innen kennengelernt (die wiederum so viele tolle Menschen kennen), die meine Liebe zum Kessel teilen, die mich bis heute begleiten und auch noch da sein werden, wenn das letzte Bauloch wieder zugeschüttet wird.

Ob irgendwann ein fertiger, funktionsfähiger Bahnhof unter der Erde sein wird? Ich weiß es nicht.

Oben bleiben!

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18 Comments

  1. says: Andrea W.

    Danke Britta für diese Zusammenfassung. Das Jahr 2010 ist unvergessen, hab auch mit Twitter angefangen und dich und andere kennengelernt – und der Bahnhof ist immer noch sch … #vuck21

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