No sleep til Schlagernacht

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In der Schleyerhalle ist die Welt noch in Ordnung. Zumindest am Samstagabend für ein paar Stunden: Die große Schlagernacht ist in der Stadt. Und mit ihr im Handgepäck große Stars wie Howard Carpendale, Mathias Reim, Vicky Leandros, aber auch kleine Kometen wie Tanja Lasch, Laura Wilde oder Sarah Jane Scott. ZDF-Zuschauer wissen wohl, wer das ist.

Zwei Highlights schaffen wir an diesem Abend: Nicole („Ein bisschen Frieden“) und Roland Kaiser („Ein bisschen Geilsein“).

Die Schleyerhalle ist voll. Natürlich. Wo will man auch sonst hin an einem Samstag, an dem die Aida in Bremerhaven vor Anker liegt und es zu kalt ist zum grillen?

Auf der Bühne steht Nicole, die ihren letzten und/oder ihren einzigen Hit mit 17 hatte.  Sie sieht nicht aus wie eine ehemalige 17-Jährige. Sie sieht inzwischen aus wie ihre eigene Zielgruppe. Irgendwo zwischen U11 und Ü50.

„Wo sind die Lichter?“ fragt sie. Und sie redet nicht von der Taschenlampenfunktion der Smartphones. Sondern von echten, brennenden Lichtern mit echter wohltuender Wärme. Ein Teil des Publikums antwortet mit dem BIC-Einwegfeuerzeug, andere winken mit fluoriszierendem Plastikspielzeug zurück. Hier sind die Lichter. Aber flieg nicht zu hoch, mein kleiner Freund.

„Die Zeit ist unser größter Feind“, ruft Nicole. Und meint ihre limitierte Stagetime von 25 Minuten. Denn Nicole ist hier und heute nicht der Main Act. Also fasst sie das Wesentliche zusammen. Und singt A-Capella ein Medley ihrer Hits, oder besser: ihrer Single-Auskopplungen. Denn: siehe oben. Kennt ihr noch das? …… oder das?……… oder das? 

Ein schnelles All-you-can-eat-Buffet durch ihre Diskographie. Und ja, Nicole hat eine schöne Stimme. Jetzt lassen wir es krachen. Sie wirft Handküsse ins Publikum und bekommt Blumen zurück.

Das schafft sonst kaum ein Künstler in dieser Stadt. Marylin Manson ging an ähnlicher Stelle jedenfalls ohne Strauß dafür aber mit vielen unzufriedenen Pfiffen von der Bühne.

Dann wird es ernster. Nicole auf großer Blauhelm-Mission. Sie findet es nicht gut, dass Krieg ist. Und droht damit, solange dieses Lied zu singen, bis endlich Frieden ist. Überall und nicht nur ein bisschen. Nicole, der Bono des Schlagers. This one goes out to Aleppo. Im Mittelteil von „Ein bisschen Frieden“ darf ein bisschen mitgesungen werden. Dafür wird das Playback im Hintergrund etwas zu unromantisch leiser gemacht.

Aber das Publikum ist Schlimmeres gewöhnt. Show-Programme auf Kreuzfahrtschiffen zum Beispiel. Wie auf dieses Stichwort erscheint Michael Branik (SWR4). So uneingebettet in Verkehrsmeldungen hätte man ihn beinahe nicht erkannt.

Michael Branik sagt Hallo Stuttgart und Tschüss Nicole und moderiert zwischen zwei Acts. Obwohl nicht umgebaut wird. Von was auf was denn auch? Smells like Fernsehgarten.

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Das Publikum ist glücksselig und stocknüchtern. Wir hatten Schlagermove-Verkleidungen erwartet und dann ganz normale Menschen angetroffen. Friedlich und fröhlich. An diesem Abend wählt hier keiner AfD. Ein paar wenige tragen Dirndl und Lederhose, der Rest trägt QCV und C&A. Keiner superdry und Uniqlo.

Wenn es rhythmisch wird oder bekannt oder beides, dann singt man leise mit, klatscht auf die zwei – oder tanzt Discofox. Auch das schafft Marylin Manson eher nicht.

Dann kommt unter viel SWR4 TamTam Roland Kaiser. Der 64-Jährige, der neulich in einem großartigen stern-Interview meinte: „Meine Alterskarriere bekommt eine verblüffende Dimension“.

Bei der eher schmalen Produktion ist zwar wenig Glamour aber viel Platz auf der Bühne. Platz, den Nicole noch für ihr wallendes Gudrun Sjöden-Kleid gebraucht hat. Roland Kaiser, im top sitzenden Sinatra-Gedächtnis-Anzug, füllt diesen Raum mit zwei Backing-Sängerinnen und einem Gitarristen,. Der darf später auf seiner Akustikgitarre ein E-Gitarren-Solo simulieren.

Roland Kaiser spielt die großen Hits.

Warum hast du nicht nein gesagt?

Manchmal möchte ich schon mit dir.

Joanna, geboren um Liebe zu geben.

So klingen die Sexwochen in Stuttgart. Aber er bringt jeden seiner Grapscher-Texte mit einem Altherren-Charme, dem man einiges verzeiht. Udo Jürgens lässt aus dem Grab in die Runde grüßen.

Das Zwinkern in der Stimme von Roland Kaiser ist unüberhörbar. Er meint das alles nicht so. Ein Nein mag bei Gina-Lisa ein Nein sein. Bei Roland Kaiser ist es immer ein „och – warum eigentlich nicht ?“ 

Oder wie er im stern-Interview verriet: „…von ewiger Liebe, auf Händen tragen, spazieren gehen – sang ich nie. Meine Lieder sind realitätsnah, oft landet man da im Bett.“

Oder man landet mit Tuifly auf Santa Maria („Nachts an deinen schneeweißen Stränden, hielt ich ihre Jugend in Händen“). Das an diesem Abend unplugged und un-playbacked gespielt wird. Live. Und man merkt, dass er es kann. Das Singen, das Darbieten, die ganze Schlagerparade. Stimme und Charisma sind da, wo sie hingehören.

Bevor er von Michael Branik rausmoderiert wird, verabschiedet sich Roland Kaiser – wie schon Nicole – mit dem Hinweis, dass man sich 2017 wieder sieht. Das „thank you, goodnight“ des Deutschen Schlagers: Danke, ganz herzlichen Dank. Wir sehen uns 2017.

Da wird einem dann bewusst, dass deutscher Schlager ja an der deutschen Grenze zu Ende ist. Und die Tour nicht wie bei den Red Hot Chilli Peppers über Antwerpen nach Toronto führt.

Nächstes Jahr beginnt das Karussell vielleicht wieder in der Barclaycard Arena in Hamburg. Und endet wieder in der Schleyerhalle in Stuttgart. Denn was will man auch machen, an einem Samstagabend, wenn die Aida gerade auf dem Trockendock liegt?

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6 Comments

  1. says: martin

    bin jetzt echt bisschen enttäuscht. habe eine konzertreview erwartet und man erfährt fast nichts über die musik, sondern nur unnötiges und belangloses. sorry kollege geiger, ich lese sie echt gerne, aber hier wurde das thema verfehlt oder wie man in der schule sagen würde: setzen, 6!

    schauen sie doch mal drüben bei gig-blog wie man konzertreviews schreibt!

  2. says: ChrisK

    Vor kurzem ein Poster mit Konzertankündigung von Howard Carpendale in Peking gesehen. Ich weiss jetzt allerdings nicht, was das über Stuttgart, Peking oder auch Howard Carpendale sagt.

  3. says: jaytext

    @elbe auf deutsche kultur meinst du sicher, oder?
    @geiger schönes bild von dem tourshirtträger. nicht wegen dem shirt, sondern wegen der adretten raucherin

  4. says: martin

    nö, hab absichtlich „dinge“ geschrieben, weil ich z.b. kürzlich gelernt habe, dass chinese auf deutsche küchen, abgeändert für den chinesischen markt, wie auch die VW-Modelle, total abfahren, nur ein beispiel. man steht wohl auf deutsche qualität. vielleicht denkt man dann auch, das howard carpendale gute deutsche qualität ist? 😉

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