Miststück: 1995 (Teil 2)

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Zeitreise 20 Jahre zurück, Thorsten und ich haben festgestellt, dass 1995 für uns beide ein wichtiges Jahr war – Auslöser war die Titelgeschichte im ZEIT-Magazin Anfang Juli.

Ich wurde 18, machte den Führerschein, durfte offiziell in die Clubs (wenn sie mich reingelassen haben) und war in den Schulferien 1995 zum ersten Mal in Berlin. Techno-Urlaub mit meinem damaligen besten Kumpel aus der Schule, der übrigens auch Thorsten hieß.

An unsere Stuttgarter Nightlife-Aktivitäten im ersten Halbjahr kann ich mich kaum erinnern. Wir waren Anfang des Jahres bei der OZ-Razzia dabei und ich weiß noch, dass ich Mitte des Jahres – trotz 18 –  im Tier abgewiesen wurde. Das lag höchstwahrscheinlich an meiner roten Cordschlaghose ausm dem ehemaligen Raver-Ausstatter Abseits, mit der man mich sofort als OZler identifizierte. Hoher Uncool-Faktor.

Musikalisch war das Jahr 1995 ziemlich prägend: Während ich 1994 überwiegend noch auf 160-BPM Hardtrance rumhopste und dabei natürlich auch anfangs „Somewhere over the Rainbow“ abfeierte, ging mir gegen Ende des Jahres 1994 das Gedudel zunehmend auf den Sack. Ich begann intensiver Rezensionen in der Frontpage und Groove zu studieren und schaute, abgegriffene Metapher, was da hinter dem Regenbogen noch so geht – der „wahre“ Techno.

Mein persönlicher Trend hin zu „monotonem“, „echtem“ Techno und weg vom einfältigen, melodiösen Hardtrance fand Schulfreund Thorsten gar nicht gut und meinte öfters, das wäre doch keine Musik und eh nur langweilig und „nur weil die Frontpage sich darauf einen abwichst ist es gut oder wie?“.

Disko B, Axis, Basic Channel oder UR sollten im Laufe des Jahres 1995 endgültig meine Labels werden, Jeff Mills, Robert Hood und Patrick Pulsinger meine neuen Idole. Eine wichtige Augenöffner-Scheibe war für mich „Our Music“ von Heiko M/S/O und Pascal F.E.O.S. (Ongaku Label), was ich letzterem wiederum Jahre später einmal im dritten M1 sagen musste. Hat er sich gefreut.

Im ersten M1 (heute Ufa-Palast) haben wir ab dem zweiten Halbjahr 1995 ziemlich viel Nachtzeit verbracht. Wir hörten schon viel von dem Club, der, soweit ich weiß, entweder im März oder Mai 1995 eröffnete. PRINZ schrieb jeden Monat, dass man dort gewesen sein muss, sonst gehört man nicht dazu (oder so ähnlich), was wiederum für meinen Kumpel Marc ein absolut überzeugendes Argument war, dort hinzugehen – abgesehen davon natürlich, Stichpunkt musikalische Wandlung, ich mich nicht nur zunehmend mit (Detroit)-Techno beschäftigte, sondern auch dieses „House“, was da jetzt so angesagt sein soll, ziemlich spannend fand.

Ich war aber kritisch, ob wir nicht zu uncool für das coole M1 sind. Ich war 18 und ich sah auch so aus. Ich hätte mich nicht reingelassen. Tanja hat uns reingelassen. Ich weiß bis heute nicht warum. Wir müssten so ziemlich die Jüngsten im Laden gewesen sein.

House gab es natürlich schon ein paar Jährchen, schwappte aber damals erst so richtig nach Deutschland und Stuttgart über (klar gab es hier davor auch schon House-Partys und vor allem das Red Dog). Bubbi Schuster hat das M1 aus Liebe zur Musik eröffnet und weil ihm mit nur einem Club, dem Red Dog, zu wenig Angebot in der Stadt gab.

Ohne weiter in die Tiefe gehen zu wollen und eine chronologisch korrekte House-Diplomarbeit abzuliefern: House war damals fresh, House war cool, House war anders, es war eine Szene, House lief garantiert nicht im Radio und wenn man House hören wollte, musste man eben z.B. ins M1 gehen.

Ich erinnere mich an eine Szene: Als wir längst Stammgäste waren, schlug eines Nachts eine Gruppe Jungs und Mädels auf und schauten in ihren LBBW-Casual-Friday-Klamottten ziemlich verwirrt durch den Laden, bis ich eine ehrfürchtig in die Runde sagen hörte: „Das ist schon eine andere Welt hier.“

Diese andere Welt gestalteten jede Woche Housecrack Sandro, Sebastian Krieg und C-Willy (heute übriges ziemlich erfolgreicher Werber) mit roughen wie groovigen US-House (weil es einfach kaum noch was anderes gab an House und so gut wie nichts aus Deutschland). Wir standen meistens links vom DJ-Pult oder direkt dahinter, tanzten die ganze Nacht durch, es war immerimmergeil, so geil, so tanzeuphorisch, dass wir umsatztechnisch absolut keine guten Gäste waren. Für mehr als den Eintritt (meistens 10 D-Mark) plus zwei, drei Cola am Abend hat die Kohle eh nicht gereicht.

Weitere Erinnerung: Wenn man aufs Klo musste, galt es eine Treppe zu erklimmen, bei der man Schiss hatte, dass sie bald zusammenbricht. Der Weg zu dieser Treppe führte über die Tanzfläche, was bei einem menschlichen Bedürfnis folgende Unannehmlichkeiten mit sich brachte, wie es meine  Kindergarten-Freundin und heutige Sängerin Fola Dada auf den Punkt brachte: „Der Bass drückt dir die volle Blase zusammen.“

Neben dem Bass hat mich in einer Nacht Derrick May absolut weggedrückt. The Innovator war zu Gast im M1 und ich stand nonstop mit offenem Mund und wie angwurzelt hinter dem Pult. Diese schwindelerregende Performance, wie DJ richtig geht, dieser Mann mit scheinbar acht Armen, hat mich nachhaltig beeindruckt.

Intensive Eindrücke hinterließen ebenso mein erster Berlin-Besuch in den Sommerferien 1995. Thorsten und ich buchten eine günstige Jugendherberge (glaub in Kreuzberg?), machten eine Woche Techno-Urlaub und erkundeten eine Stadt im Umbruch. Damals standen am Potsdamer Platz nur Baukräne herum und keine Glasfassaden.

Im (alten) Hardwax kaufte ich Platten für 160 Mark, darunter das aktuelle A Guy Called Gerald Album „Black Secret Technology“, Drum`n´Bass wurde immer präsenter und diese Platte war ein Meilenstein, die „Purpose Maker EP“ von Jeff Mills, vielleicht sein bester 4-Tracker jemals, oder Hells „Geteert und Gefedert“-Album.

Wir besuchten zweimal den Tresor, einmal sonntags, der damals Ellen Allien und Tanith gehörte, letztere ließ wiederum etwas DnB in sein Set fließen, und einmal das absolut imposante E-Werk, wo Ellen Alliens monoton pulsierender Hit „Just let the groove go“ durch die Kathedrale inklusive Empore hämmerte und wo ich zum ersten Mal in meinem Leben zwei knutschende Männer gesehen habe. Ui! Walter Ercolino bezeichnete erst kürzlich das E-Werk als seinen „Alltime-Lieblingsclub“.

Zurück in Stuttgart war endgültig klar, was ich an Musik jetzt gut finde: das komplette elektronische Spektrum mit Hauptkomponente Detroit. Ich versuchte alles aufzusaugen, von House über Techno bis DnB und Experiementelles, und, sofern es das „Einkommen“ (Taschengeld und Nebenjobs) zuließen, auch zu kaufen, was aber erst ab Mitte 1996 mit dem Zivi-Gehalt besser klappte. Für Robert Hoods „Nighttime World Vol.1“ (Cheap) hat es gereicht, die lief Ende 1995 nonstop.

Ende 1995 habe ich es dann schließlich zum ersten Mal ins Unbekannte Tier (heute ungefähr Tialini) reingeschafft. Die rote Cordschlaghose blieb im Schrank, die Haare waren wesentlich cooler und dafür gab es als Belohnun eine Disko B-Nacht mit Hell, Abe Duque und Monika Kruse und dem Disko B-Labelchef Upstart, wenn ich mich richtig an das Line-up erinnere.

Da das erste M1 Ende 1995 schloss (Bau Ufa-Palast) und erst im Herbst 1996 am HBF wieder eröffnete, war das Tier dann unser neuer Haupt-Spot, bis es im Sommer 1996 schließen musste. Warum eigentlich genau nochmals?

Das Tier bestand übrigens aus überwiegend geschweißten Möbel. „Früher war alles geschweißt“, so der aktuelle Running Gag zwischen Thorsten und mir. Nachdem das Zapata, das Soho und auch das Stella in den letzten Jahren geschlossen haben, ist die geschweiße-Möbel-Ära  in Stuttgart endgültig vorbei.

1995 wird dafür immer eines meiner wichtigsten Lebensjahre bleiben und um die ZEIT-Frage für mich zu beantworten: In meinem 2015 steckt noch einiges von 1995. Auch wenn heute alles anders ist.

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4 Comments

  1. says: Whiskydrinker

    Das mit dem Tier war glaub wegen der allgemeinen „Aufwertung“ des Gebäudes. Das Palast-Kino hat ja damals zur gleichen Zeit zugemacht und dann wurde das ganz Gebäude kernsaniert.

    (Für die jüngeren Leser: Das Palast ist heute das Metropol.)

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