Rumble in the Rathaus

Manch einer hat sich den gestrigen Sonntag bisschen anders vorgestellt: Thorsten Fink und Sebastian Turner zum Beispiel dachten beide, sie könnten gegen Stuttgart gewinnen – und ich, dass ich einen sonnigen Nachmittag vor dem Wilhelmspalais verbringen kann. Chillaxen, slacken, rumhängen. Doch am Wilhelmspalais sollte ich nie ankommen!

Eigentlich will ich ja die Radstrecke am KimTimJim vorbei nehmen. Aber das Schicksal und der Bloggergott lassen mich drei Mountainbikern folgen, die eine Route am Marktplatz entlang fahren. Es soll sich lohnen!

Dort nämlich hat eine Jugendorganisation einen BMX-Bike-Parcours aufgebaut. Und wer sitzt da auf dem Rad und fährt? Ein Biker als Oberbürgermeister!

Bei Aktenzeichen XY heißt sowas: Am Nachmittag des 21.Oktober machten Spaziergänger einen grausigen Fund. Sebastian Turner in mehr oder weniger voller Fahrt auf einem BMX-Rad.

Wäre man wüst, müsste man befürchten, dass er es ja in 8 Jahren nochmal probiert und hier schon grassrooting/ astroturfing um die Wählergunst, der dann Wahlberechtigten macht.

Ich stalke ihn ein bisschen. Und fühle mich nicht schlecht dabei. Das hat er schließlich die letzten Monate mit den Stuttgartern auch gemacht.

Aus der unmittelbaren Bürgernähe wirkt der Werbeprofi etwas verloren, so ganz ohne Pappen, Beamer und Laserpointer. Ich würde ihn gerne drücken. Weiß aber nicht, wohin. Irgendwie erinnert Sebastian Turner mich aus der Nähe an Berti Vogts. Same Attitude. Same Ausstrahlungsmanko.

Turner – schlecht gekleidet aber gut dressiert – gibt auch hier das Bürgeräffchen. Für einen Moment tut er mir fast leid. Und ich meine, die Antenne auf seinem Rücken erkennen zu können, die zu einer Fernbedienung in Stefan Kaufmanns Händen führt, der wiederum über eine Fernsteuerung mit Berlin verbunden ist. Wenn man den Verschwörungstheoretikern glaubt.

Apropos Verschwörung: an der Rathaustür mache ich bei genauem Hinsehen einen Sensationsfund der Höhlenmalerei – die eingravierte Brezel. Fluch oder Omen? flügel.tv Putte meint später, solange man die Brezel nicht auf die Gold- und Justitia-Waage lege, sei alles in Ordnung in dieser Stadt.

Stichwort Ordnung: wo ist eigentlich Stefan Kaufmann, wenn man ihn braucht? Der hätte hier auf dem Parcours bestimmt gerockt. Sebi simst Kaufi. Vielleicht hat er das Passwort für seinen Twitter-Account vergessen? Oder er „gefällt mir“ sein eigenes facebook-Foto. Sein Vorteil: im sozialen Netzwerk bekommt er mehr likes als an den Urnen des Stuttgarter Westens.

Und weil wir nunmal ein Fashionblog sind: Die Krawatten-Modefarbe der Turner-Unterstützer im Herbst 2012: ein partei- und klimaneutrales Bleue. Gelb, Rot und Grün geht halt net. Und Schwarz sieht scheiße aus.

Dann kauft er noch volksnah einen Button der Kinderfahrradorganisation. Süß: Basti zahlt selber. Alles zusammen. Mit Kleingeld aus einem roten Kunstlederbeutel mit weißem Schweizer Kreuz. Stichwort: kann Wirtschaft! Wahrscheinlich ist der sympathische Hobby-Politiker nicht nur überparteilich, sondern auch überirdisch. Lebt gleichzeitig in Berlin, Stuttgart und in der Schweiz. So ist das eben: wenn viele Herzen in der eigenen Brust schlagen, kann eines ja auch auf Schwitzerdütsch klopfen.

Turners Rad-Performance kommt genaugenommen nur bei dieser Breuninger Platincard-Inhaberin richtig gut an. Sie applaudiert einsam. Modebloggerfrage am Rande: sind das noch Ugg- oder schon Bitch-Boots?

Wilhelmspalais ade! Der rasende Reporter in mir ist jetzt investigativ angefixt. Ich schau mir die Plakate beider Kandidaten – oder das, was davon übrig ist, mal ein bisschen genauer an. Und es fällt auf, dass kaum eines unbefleckt, unbeschmiert, unumgestaltet ist. Wie heißt nochmal das Gegenteil von Fairplay?

Bewertet man die Kampagne des Werbeprofis Turner nach der oft gepredigten und praktizierten Werbeformel AIDA (Attention – Interest – Desire – Action), dann hat die Brezel-Offensive vor allem im letzten Punkt eingeschlagen: Action! Aber ist das jetzt Streetart oder kann das weg?

Am Ende bringen einige die Argumente durcheinander. Kuhn bekommt ja laut Wahlforschern die Stimmen von Rocky. Warum also nicht auch dessen Bepper?

Das Leben selbst schreibt aber die schönsten Geschichten:

Bin mir nicht sicher, auf wen sich das freundliche Kompliment bezieht: auf den davor oder auf die dahinter? Der QR-Code führt wahrscheinlich wieder hierhin.

In der schlimmsten Wahlschlacht, die diese Stadt zumindest in meiner Erinnerung erlebt hat, sind dem Team Turner auf der Zielgeraden wohl die Kabelbinder ausgegangen. Im Hintergrund: die nicht un-eitle Scholz-Crowd. 70% von ihnen würden sich am liebsten selber wählen. Der Rest einen Typen namens Hugo.

Im bürgerlichen Lager versucht Turner nochmal zuzulegen. Dumm nur, dass Göppingen ja schon vorletzte Woche gewählt hat. Ich vermerke positiv, dass er sich bei dieser Zielgruppe nicht anbiedert. Mit einem spontan auf dem Marktplatz zusammengeschusterten Flyer – vom gleichen Grafiker, der dieses Kunststück gestaltet hat. Und mit dem Wahlslogan „Ein Heimwerker als Oberbürgermeister.“

Rund ums Rathaus bauen jetzt schon die Fernsehteams auf. Der SWR mit seinem gesamten Fuhrpark. Die 6 Euro 10 Maut pro Stadtfahrt werden nachher auf den Gebührenzahler umgelegt.

Es fallen Begriffe wie „Akkreditierung“, „Einspieler“, „EB-Team“. Die Redaktion scherzt lautstark über den möglichen Opener für den Abend: „Unglaublich aber wahr – die CDU geht ins 39. Jahr.“ Brüller! Mega-LOL! SWR Humor! Die gleiche Redakteurin schreibt bestimmt auch die brisanten Politgags für Oli Welke.

Und alle sind sie da: ARD, ZDF, SWR, Youtube, Schawa.tv, flügel.tv, kessel.tv. Nur DMAX und HSE24 fehlen. Einige produzieren footage. Andere suchen das richtige historische Bild für den Einspieler. MAZ ab.

Dieses Bild von der überparteilichen Wahlkampfveranstaltung soll heute Abend um die Welt gehen. Noch ist nicht sicher, in welchem Kontext. Untertitel findet man auf Videotexttafel 150.

Rein zufällig erkenne ich einen Aufnahmemenschen von Schawa-TV. Witziger Nebenhandlungsstrang: dessen Bruder hat früher als Cutter auch bei Schawa gearbeitet, die für die Bundesligaübertragungen zuständig waren. Allerdings ohne eine Ahnung von oder Leidenschaft für Fußball zu haben. Wenn sein Bildregisseur sagte „Du gib mir mal den Elber nochmal in Großaufnahme“ antwortete der Cutterbruder „Welcher Elber? Sag mir Rückennummern!“

Fashionblog-Erkenntnis Nummero zwei: zwischen Fernseh-Crew und Rock’n’Roll Roadcrew gibt es modisch kaum Unterschiede: Schwarz ist das neue Khaki. Zopf die neue Glatze.

Eigentlich, what’s-appe ich dem Martin, wollte ich ja mal in den Ratskeller gehen heute abend. Betroffenheit gucken. Die aber haben (in weiser Voraussicht?) am Wahltag Ruhetag.

Erschreckend viele 52,9-Prozent-Menschen kommen vorbei und wundern sich über das große Fernseh-Geschirr. Ein Aufwand, den sie sonst nur kennen, wenn der DSDS-Castingtruck in die Stadt kommt.

Die meisten laufen vorbei, sehen den Ü-Wagen und fragen sich, was hier wohl los ist. Ein Hipster zum anderen: „Ach heut isch die Wahl. Voll vergessen, hihihi. LOL. ROFL.“

Beide sehen aber nicht so aus, als ob sie an der Wahlbeteiligung jetzt noch was positiv ändern wollen.

Nein junge Dame. Du kannst weder deinen Stimmzettel noch deine Zalando-Bestellung direkt „bei denen da oben“ abgeben.

Wie Sebastian Turner versuche auch ich durch den Nebeneingang ins Rathaus zu kommen. Aus anderen Beweggründen allerdings. Er für die Menschen. Ich für kessel.tv! Aber ohne rotes Bändchen geht gar nichts. Das grüne Stuttgartnacht Bändchen vom Vorabend wollen sie leider nicht durchgehen lassen. Ebenso wenig wie seinen Träger.

Und die Ausgabestelle für rote Akkreditierungsbändchen ist streng. An ihr kommt keiner vorbei. Sie ist die wahre Nummer 1 im Rathaus. Die Herrscherin über die Gästeliste.

Am Ende war’s dann alles in allem ein guter Tag für die beiden grünen Fritzle: das VfB Krokodil jubelt in Hamburg. Der Ex-OB Kandidat im Schlesinger. Nur schade, dass keine Kneipe an diesem Abend Konferenz zeigt: ein Splitscreen Rathaus/Volkspark-Stadion wäre jetzt der Knaller.

Beim Tauchen sagt man „the greener the cleaner“ (und meint die Spucke, die das Taucherbrillenglas reinigt) – die Menschen in BaWü sagen je nach Gesinnung hoffnungsfroh oder resigniert „Grüner wird’s nicht“ – und ich sage „schön war’s“. Zumindest gestern Nachmittag.

Und eben weil’s so schön war, hier noch Best-of Speicherkarte:

Am Stichtag: Kaiser- und Oberbürgermeisterwetter.

Domenico Mazza; Aufnahmeleiter SWR – nicht verwechseln mit Domenico Mazza, DJ.

Kamerakind Karsten. Und wenn er in diesem Moment ”record“ gedrückt hat, bin ich heute in den 20 Uhr Nachrichten. Vor dem Stuttgart Tatort.

NäNäNä. Aber der hat angefangen!

Nonstop Pop und Rock. „Voll High-End bei Euch alles. Sieht ja aus wie beim Elektro Dräger“ grüße ich in den Ü-Wagen. „Und das hier ist nur Radio. Solltest mal da vorne bei den Fernsehkollegen gucken“ grüßt die Ü-Ei-Wagen Besatzung zurück.

Erste Amtshandlung des grünen OBs: Stuttgart bekommt Kabelfernsehen und gratis WLAN rund ums Rathaus.

Aus diesem Ü-Wagen wurde offensichtlich schon von der Mondlandung, von Don Quijote, von Felix Baumgartner und vom Sommermärchen berichtet.

Was nimmt man denn bei so ’nem Breitbandthema: Chinch auf Klinke oder Koaxial?

Will jetzt für den kessel.tv Fuhrpark bitte auch Wunschkennzeichen.

Vielleicht sogar mein Lieblingsfoto. Dra Chanasan mat dam Katrabass. Die Umlautpünktchen haben sich wahrscheinlich die Grünen unter den Nagel gerissen.

 

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23 Comments

  1. says: Tsu

    stimme mighty zu, der war sehr gut und äußerst treffend!!!
    „70% von ihnen würden sich am liebsten selber wählen. Der Rest einen Typen namens Hugo.“

  2. says: Frau Doktor

    Cinch-, nicht Chinch-Stecker… 😉 Aber stadtische Amter – da möchte uns vielleicht der Weltgeist etwas über den Charakter des durchschnittlichen Stuttgarter Amtes mitteilen?

  3. Sorry @Thorsten W., die Feststellung, dass das kein BMX ist, ist zwar richtig, es ist aber mitnichten ein Trial-Bike. 😉

    Und den BMX-Bike-Parcours sollte man auch ganz einfach Pumptrack (in diesem Fall ist es der mobile Pumptrack vom Jugendhaus/Bikepark Weilimdorf) nennen, nur so als fachliche Anmerkung.

  4. @martin:
    Prinzipiell ist so ein Rad mal aus der Kategorie Mountainbike entstanden, bzw. unter diese einzuordnen.
    Da gibt es die Kategorie Dirt-Bikes, also relativ kleine und niedrige Räder, mit denen es einfacher ist, zu springen und Tricks zu machen, also im weitesten Sinne etwas größere BMX-Bikes, aber mit 26-Zoll-Laufrädern (teilweise auch 24 Zoll).
    Ebenfalls gibt’s die Kategorie 4X(Fourcross)-Bikes, das sind im Prinzip ähliche Räder (kleine Unterschiede in Geometrie, etc.), mit denen ähnlich zum BMX-Rennsport (siehe Olympia) auf angelegten Rennstrecken gegeneinander gefahren wird.
    Diese beiden Arten von Rädern eignen sich grundsätzlich mal gut zum Pumptrack fahren, wobei man dann sich die Vorteile beider Radtypen herauspickt, wie etwa Singlespeed vom Dirt-Bike, aber leichtere Teile vom 4X.
    Mittlerweile gibt es schon Entwicklungen in eine eigene Kategorie Pumptrack-Bike, möglichst leicht bei ausreichender Stabilität, nidriege Front mit breitem Lenker, Singlespeed, eine Bremse hinten, …

    Lange Rede, kurzer Sinn, prinzipiell ist ein Pumptrack mit so ziemlich jeder Art von Fahrrad befahrbar, je nach fortschreitendem Können bringen dann geeignetere Räder ein bisserl mehr Spaß.

    Kann nur jedem empfehlen, mal so einen Pumptrack auszuprobieren, macht irre Spaß und ist ziemlich anstrengend. Man darf da nämlich nicht treten.

  5. @Thorsten W.:
    Siehe vorherigen Post…Du hast schon Recht, äußerlich gibt es schon Ähnlichkeiten zu Trial-Bikes und die Kategorien vermischen sich schon auch ein bisschen (wenn man sich zum Beispiel Danny MacAskill anschaut, der das Trial-Fahren mit Tricks verbindet, wie man sie z.B. beim BMX-Fahren kennt).
    Trial-Räder sind allerdings sehr speziell, das alles jetzt aber auszuführen, sprengt den Rahmen glaube ich.

    Was ich noch vergessen habe, ein BMX-Rad wäre aber durchaus ein sehr gut geeignetes Rad für einen Pumptrack.

  6. Könnte man als Fazit so stehen lassen. 😉
    Dieser Sympathiepunkt hat’s jetzt aber bei mir auch nicht rausgerissen.
    Kuhn ist übrigens wohl nicht gefahren (oder war gar nicht da), dafür der Werner Wölfle.
    Das mit den ganzen Sparten speziell im MTB-Bereich nimmt echt überhand. Also könnte man auch einfach sagen, der Turner sitzt auf einem Fahrrad.

    Wie gesagt, Pumptrack fahren einfach mal ausprobieren, da gibt’s auch keine Altersbeschränkung für, von Zweijährigen mit dem Laufrad bis ins hohe Alter macht das allen, die das ausprobieren, sehr viel Spaß.

  7. says: martin

    nochmals ein paar zahlen

    Analyse zur OB-Wahl: Über 82 Prozent für Fritz Kuhn

    Bei der Oberbürgermeisterwahl am 21. Oktober hatte Wahlgewinner Fritz Kuhn in einigen Stadtteilen und Wahlbezirken eine absolute Dominanz: Sein bestes Wahlergebnis auf Wahlbezirksebene waren 82,7 Prozent im Bezirk 001-08, Evangelisches Friedens-Gemeindehaus in Stuttgart-Mitte. Bei der Neuwahl wählten 87 Prozent derjenigen, die im ersten Wahlgang Hannes Rockenbauch gewählt hatten, Kuhn. Von den Wählern von Bettina Wilhelm waren es 55 Prozent.

    Dies sind Zahlen aus dem Themenheft des Statistischen Amts zur Oberbürgermeisterwahl im Oktober. Das Heft dokumentiert und analysiert beide Wahlgänge und schlüsselt die Ergebnisse nach unterschiedlichen Faktoren auf.
    Über Sebastian Turner heißt es: „Eine unterdurchschnittliche Resonanz fand Turner im mittleren Alterssegment, bei den 35- bis 60-Jährigen. Dafür war seine Bilanz bei den Senioren ab 70 Jahre deutlich überdurchschnittlich. Besondere Zuwächse bei der Neuwahl waren aber bei den Jungwählern unter 25 Jahren zu verzeichnen, bei denen Turner (55 Prozent) klar vor Kuhn (44 Prozent) lag.“

    Im Rahmen der Wahlanalyse werden die Ergebnisse in den Kontext früherer Oberbürgermeisterwahlen und anderer Wahlen in Stuttgart eingeordnet. Das Wahlverhalten wird in seinen räumlichen und soziostrukturellen Ausprägungen, aber auch vor dem Hintergrund der Beurteilung der Kandidaten und der parteipolitischen Orientierung der Wählerinnen und Wähler skizziert. Einen weiteren Schwerpunkt stellen schließlich die Wählerwanderungen dar, die es zwischen den beiden Urnengängen gegeben hat.

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