Kessel History: 9/11

SETZER

„Sag mal, kannst du heute Abend für mich im Waldhaus auflegen?“, fragte Paddy. Da ich da seit gefühlten Jahrhunderten nicht mehr war, sagte ich zu. Manchmal ist die Neugierde halt stärker als der Körper, der sagt „Heute Abend bleibste bitte mal auf der Couch. Stuttgart Kaputchillen.“

Zugesagt, Hörer wieder aufgelegt und dran gedacht, wie schlimm das im Waldhaus eigentlich immer war, wenn nicht gerade Sommer war, man im Biergarten rumstehen und menschenverachtend über die Musik reden könnte, die die DJs da normalerweise auflegen.

Dann schnell weiter gearbeitet. Hauptproduktionschnellschnellschnell. Telefon klingelt schon wieder. Die Ommah ist dran, mein damaliger Mitbewohner. Eigentlich „Oli“, aber weil er bei Gran Turismo an der Playstation immer so langsam war, nannten wir ihn Ommah. Freunde machen so was. Sie geben sich Spitznamen, manche davon halten ein Leben lang. Andere verblassen. Ich nenne Oli heute noch Ommah, wenn ich ihn mal sehe.

„Äh, mach‘ den Fernseher an. Sofort.“
„Bin bei der Arbeit“
„Sofort, habe ich gesagt. Echt. In New York geht’s ab. Flugzeug. Bis später. Bringste Kippen und Klopapier mit?“

Keine Sau konnte wissen, wie schnell die Ommah an diesem Tag war. Dann hat er aufgelegt und ich stellte die PRINZ-Redaktionsglotze an. Sabine fragt „Was ist los, hat der VfB den Trainer entlassen?“, Ariane sagte „Nix zu tun?“ und Kollege Seibold fragte „Hui, Kommt was Gutes?“.

Gut war’s nicht. Ein großes Haus brannte. Und während wir im Redaktionsgang fassungslos, aber auch irgendwie interessiert den Rauch anschauten und versuchten, irgendetwas  davon zu verstehen, was da passiert war, kam ein zweites Flugzeug.

„Achduliebescheiße, Whoooowww“, gesagt und gedacht, dass mir das keine Sau glauben wird, was ich da gerade gesehen habe. So ist das immer in beeindruckenden Momenten. Und das war definitiv einer. Aber ich gebe zu, Hand auf die Hose: Der sensationsgeile Gaffer in mir war durchaus entzückt. „Endlich mal wieder was los“, dachte ich. Manchmal hasse ich das doofe Arschloch für seine Langeweile.

„Lieber Gott, lass es nicht die Palästinenser gewesen sein“, war der dritte Gedanke. Ich weiß nicht, wieso ich das dachte. Ariane sagte „Ui, der Winni Klenk ist gerade in New York“. Obwohl ich Winni mag, sagte ich „Da sind noch viel mehr Leute, aber beim Shoppen sterben die wenigsten.“ Doofer Spruch, wusste ich schon als ich meine Klappe wieder zugemacht hatte. Ich dachte an Bands aus New York. Das ist das Los von Trotteln, die mehr Platten als Sozialkompetenz und vernünftige Gedanken haben.

An Informationen ranzukommen war derweil schwer: erstens redeten wir alle durcheinander, zweitens war Peter Klöppel auf RTL auch mit der Lage überfordert. Er wirkte wie einer, der wartete, dass er auch endlich etwas erfahren würde. Das ist unüblich bei Nachrichtensprechern. Die und Piloten auf der Bordsprechanlage wirken ihrer Sache normalerweise sicher. Welt aus den Fugen.

Im Splitscreen auf RTL wiederholten sich ständig die Szenen von den Flugzeugen, die ins World Trade Center krachten. Ab und an sagte Klöppel etwas von weiteren Flugzeugen, etwas vom Pentagon und dass sonst keine bestätigten Meldungen vorliegen würden. Twitter gab’s nicht. Facebook auch nicht. Myspace, keine Ahnung.

Nixwissen war das, keine Ungewissheit. Und immer wieder diese Flugzeuge auf dem Bildschirm, der Rauch, flüchtende Menschen, fassunglose Gesichter, Feuerwehrmänner, Weinende und Leute, die aus den Gebäuden sprangen, weil sogar das besser war, als drin zu bleiben. Hässlich. Ich schämte mich, für einige meiner Gedanken zuvor. Als ob ich sie dadurch hätte rückgängig machen könnte.

Dann stürzte der erste der verdammten Türme ein…

Abends im Waldhaus: Maximal 20 Gäste, fünf auf der Tanzfläche. Einer sagt: „Konntest Du Dir das auch nicht mehr ansehen? Gut, dass es hier Ablenkung gibt, spiel mal Sick Of It All. Sind aus New York“

„Einen Schnaps auf die Toten?“
„Nee, muss noch fahren“

Ein anderer brüllt mich an: „Mach‘ mal ‚Terrorist‘ von Soulfly.“ Hab’s gemacht. Auch die Deftones „My Own Summer“ und „Waiting Room“ von Fugazi. Scheisstag. Eine Frau sagte, sie möchte nicht nach Hause. Dabei machte das Waldhaus in dieser Nacht noch weniger Spaß als sonst. Jahre später hörte ich eine Zeile bei der Hansen Band: „Niemand ist gerne alleine, wenn ein Krieg ausbricht.“ Ich glaube, Thees Uhlmann hat die geschrieben.

Ein paar Wochen später habe ich mir eine Ausgabe von Titanic gekauft. Auf dem Cover war eine US-Flagge und die Titelzeile „100 Gründe, Amerika gerade jetzt zu lieben“. Wusste nicht, ob ich das wollte, zumal ich mir Gründe, zu lieben bitteschön selbst zusammentrage möchte. Hab das Heft trotzdem durchgeblättert. Da war keine Geschichte zu diesem Thema. Im ganzen Heft.

KOLLEGE GEIGER

Am 11. September 2001 war ich in München. Nach 7 langen Monaten in der Weltgeschichte umhergondeln zurück in meiner damaligen Wahlheimat. Gebucht für den Tag als Freelancer von einer Werbeagentur. Ich hatte dort ein eigenes Büro, in dem ich arbeitete und in dem ein XXL-Fernseher stand. Eine Freundin rief an und sagte „Mach mal den Fernseher an. Da ist in New York ein Flugzeug in ein Hochhaus geflogen.“

Flugzeug? Hochhaus? Ich dachte, sie meint so’n Sportflugzeug und dass sowas bestimmt nicht am helllichten Tag im Fernsehen kommt und ich ja hier nicht als freier Mitarbeiter Privatfernsehen anmachen könne. Hab’s dann aber doch gemacht. „Ach so ein Flugzeug. Ach du Scheiße! Und in so ein Hochhaus.“

Hab fassungslos auf den Fernseher gestarrt. Die Rauchwolken, das Feuer, dazu die spärlichen Informationen. Da hatten sie wohl gerade die Live-Schaltungen begonnen, das Programm unterbrochen, aber wissen wusste noch niemand irgendwas. Kollektive Ahnungs- und Fassungslosigkeit.

Dann kamen nach und nach die anderen Mitarbeiter und haben stumm geschaut. Keiner hat was gesagt oder gefragt. Als ob allen klar war, dass das gerade unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Das zweite Flugzeug und den Kollaps der Gebäude haben wir „live“ mitangesehen. Irgendwann kam eine Art Direktorin auf die Idee, das Programm zu wechseln. Das nicht auf RTL zu schauen, sondern fundierter auf n-tv oder so.

Keine Ahnung, wo hier auf dem Agentur-Fernseher n-tv ist. Also haben wir gezappt. Und auf jedem Kanal andere Einstellungen, aber der gleiche Horror. Ich weiß noch, dass ich fast genauso geschockt war, dass auf Eurosport einfach weiter Snooker lief und 9LIVE nach einer italienischen Automarke mit vier Buchstaben gesucht hat, während auf den Sendeplätzen davor und dahinter die Welt unterging.

Dann kamen die ersten Anrufe von weiteren Freunden:
– Hast du’s schon gesehen?
– Ja, ich seh’s gerade.
– Unfassbar oder?
– Ja, unfassbar.

Mehr war nicht zu besprechen. Dann die TV-Gerüchte, dass da noch mehr Flugzeuge gekapert wurden. Nach Washington unterwegs sind. Dass Los Angeles ein weiteres Ziel ist. Da kam ich gerade her und es gab dort Menschen, die mir sehr nahe standen. Verrückt, aber in einer Welt vor facebook und Twitter war das gar nicht so einfach, die zu erreichen. Zu fragen, ob alles in Ordnung sei.

Emails geschrieben, angerufen, nicht durchgekommen, nichts gewusst, nur gebangt. Dann nach und nach gehört, dass alle in „Sicherheit“ waren, aber fast jeder in LA jemanden kannte, der gerade in New York war. Plötzlich hatte es unser aller Komfortzone verrückt. Weiß noch, dass ich richtig froh war, Gerhard Schröder auf dem Bildschirm zu sehen, sein Volk beruhigend und echte, ungespielte Berührtheit zeigend.

3 Tage später musste ich nach Mallorca fliegen. Keiner wusste, ob überhaupt Flugzeuge starten und wie das jetzt alles sein würde. Jeder hat jeden voller Misstrauen angeschaut, wieder weggeschaut. Und wir mussten uns alle eingestehen, dass Kontrolle und Sicherheit zwei fette Illusionen in HD sind.

THORSTEN W.

Es ist nicht schwer, sich an den 11. September zu erinnern, wenn man 9000 km von seiner Heimat entfernt ist. Wir waren am 11. September 2001 in Tokio im Urlaub, 10 Tage.

Deshalb fehlen bei mir diese ganzen Echtzeit-Reaktionen – einen Anruf bekommen, den Fernseher anschalten, fassungslos Peter Klöppel anstarren, versuchen Freunde in New York zu erreichen, überlegen, welche Folgen dieser Anschlag jetzt haben wird.

Stattdessen sind wir in einer Stadt, die so unwirklich und futuristisch ist wie man sie sich vorstellt. Eine Stadt mit Menschen, die unglaublich hilfsbereit, zuvorkommend und höflich aber gleichzeitig sehr unnahbar sind. Eine Stadt, in der das Einkaufsviertel ins Rotlichtviertel übergeht und man das nur daran erkennt, dass auf den bunten und leuchtenden Schildern plötzlich Titten statt Mangafiguren zu sehen sind. Eine Stadt, die den Eiffelturm in Originalgröße nachgebaut, rot angestrichen und „Tokyo Tower“ genannt hat. Eine Stadt, in der nicht die 15-jährigen Mädchen im viktorianischen Gruseloutfit, sondern wir fotografiert werden.

Am Abend des 11. September, in Tokio Ortszeit ca. 23 Uhr, sitzen wir zu zweit in unserem Ryokan, einer traditionellen japanischen Herberge, und schauen wie jeden Abend fasziniert das bunte, laute und schrille japanische Fernsehprogramm.

Beim Zappen bleiben wir bei einer Aufnahme hängen, auf der ein brennender Turm in New York zu sehen ist. Bis wir verstehen, dass das kein japanischer B-Movie, sondern live ist, vergeht eine Weile. Noch gibt es keine englischen Untertitel, wir können nur raten, was passiert ist und vermuten einen unglaublichen Unfall.

Unser dritter Mitreisender war noch alleine unterwegs und ruft ans Fenster, weil der Herbergsvater schon im Bett ist. Als er eintritt erzählen wir kurz was – vermutlich – passiert ist und zusammen sehen wir in den Live-Bildern, wie ein zweites Flugzeug in den zweiten Turm des World Trade Center fliegt.

Die Theorie des Unfalls ist schnell verworfen, und die ersten englischen Untertitel und der inzwischen zugeschaltete internationale Sender erzählen uns die grausame Wahrheit.

Natürlich sitzen wir gebannt bis spät nachts vor dem Fernseher und erstarren, als die beiden Türme einstürzen. Aber am nächsten Tag machen wir mit dem Erkunden dieser seltsamen und seltsam faszinierenden Stadt weiter wie vorher. Weil das alles so unglaublich weit weg für uns ist, weil es keine Kommentare und Bewertungen gibt, die wir verstehen, weil es keinen Freundes- und Kollegenkreis gibt, mit dem wir diskutieren können.

Erst als wir wenige Tage später zurückfliegen holen uns die Geschehnisse wieder ein: Höchste Alarmbereitschaft und Sicherheitsstufe am Flughafen, doppelter Security-Check, bei dem ein Wahnwitziger vor uns tatsächlich einen Wurfstern im Handgepäck hat.

In London verpassen wir deshalb unseren Anschlussflug nach Stuttgart und sehen Wartehallen voll mit Massen von Menschen, die nicht in die USA zurückfliegen können, weil alle Transatlantikflüge gestrichen sind, und englische Polizisten mit MPs im Anschlag.

Wir nehmen einen Flieger nach Frankfurt, erreichen dort nur mit Rennen den letzten Zug nach Stuttgart und sind nach 24 Stunden Reisezeit endlich zu Hause. Peter Klöppel und die Realität erwarten uns bereits.