Best Of 2011: Drei Jahre KTV Review von Afro-Dieter

Letztes Jahr berichtete er vom Southside, nun über unsere Jubiläumslesung im Transit: Afro-Dieter. Bisschen spät, schon wieder knapp zwei Wochen her, aber den hervorragenden, ziemlich langen Text möchten wir euch nicht vorenthalten.

Neapolitanischer Strassenverkauf vor meinem Hotel am Bahnhof, kurz vor halb eins nachts, 26 Grad und leicht auffrischender Wind. Ich habe aus einer Vier- eine Zweieinhalb-Tage Reise gemacht, um den Geburtstag eines guten Freundes zu erwischen. Dummerweise zwingt mich der Rückflug, auf das Sonnenterrassen-Frühstück mit fantastischem Blick über die erwachende, charmant verkommene Stadt zu verzichten. Aber mit leerem Magen schlafen und fliegen ist wie mit ohne Hose im Bus und alle schauen dich komisch an: nicht gut.

Also steh ich nachts noch an der Kreuzung, warte auf einen Burger und wippe angetrunken zu „My sharona“, das gerade aus dem Weltempfänger dröhnt und mich an 90er Filme mit Winona Ryder erinnert.

Als eine von weitem aufreizende und von nahem nicht mehr so hübsche Transsexuelle auf den Stand stürmt und viel zu arg mittanzt, versuch ich noch charmant vorbei zu schauen. Doch nachdem sie kurz darauf untenrum blank zieht, propellert und meine Aufmerksamkeit sucht, hole ich mein Handy aus der Tasche und schreibe hochkonzentriert gelangweilt eine SMS. Das hält Sie jedoch nicht davon ab, mich mit bassigem italienisch verbal auszuziehen.

Ich verfluche den theatralischen Burger-Bau-Prozess und denke an Flucht. Die Putze des Strassenstand überredet Lola, sich wieder halbwegs anzuziehen, was bei dem aktuell abreizenden Modeverständnis immer noch nackt wäre. Die Situation entspannt sich, und ich habe die Chance, aus der Geschichte mit mangelnden Sprachkenntnissen und fordernder Verlobten rauszukommen.

Einen Handkuss bekomm ich trotzdem. Und einen widerlichen Burger, dessen Einzelheiten noch vor dem Hoteleingang im Müll landen. Unter diesem Eindruck schlafe ich ein, wache sofort wieder auf, fliege heim, arbeite in Trance und erscheine apathisch bei Bernd zum Duschen.

Kurz mal für 20 Minuten wach, Cuba Libre im einem Liter Plastikglas und auf in die Stadt. Vorm Transit wartet schon das Geburtstagskind, verkörpert in zwei Stuttgarter DJs, nebenberuflich in einer Fernsehanstalt mit viel Text beschäftigt.

Nach Betreten vom Transit alles wie gewohnt. Viele nette und laute Menschen, trotz 15 Grad Aussentemperatur und Regen bildet sich ein Eigenklima. Nur die Musik fehlt, obwohl DJ Emilio an den Reglern steht. Doch heute ist er mal nur Nachbar und Erfüllungsgehilfe, der milde Texte mit musikalischen Einspielern würzt.

Denn oben auf der improvisierten Bühne, wo sonst das Publikum den Lapdance probt, präsentieren sich die N’sync des Stuttgarter Internetautoren, die Otti Fischers der Kleinstadt-Humoristen und die Sascha Lobos der Internetrebellen. Bunt gemischt wie die S-Bahn Sonntag morgens um halb sieben.

Zu linker Hand der Bühne hält sich ein adrett gekleideter Mann Ende 20 dezent im Hintergrund. Mitte der 70er war die Hecke auf seiner Oberlippe das Must des selbstbestimmten Mannes. Er hat den wiederkehrenden Zahn der Zeit erkannt. Mit der selben Zuversicht präsentiert er eloquent und souverän seine Auffassung von Big-City-Hype-Raven mit Paul Kalkbrenner, der gefangen zwischen Umsatzerwartungen und Massenhysterie bodenständige Entscheidungen trifft.

Als Aussenreporter ist er auch Schöpfer von grandiosen Worten wie „Schnappatmung, Gaumen-Liebe und Nahschämen“. Musikalisch ist er augenscheinlich auf A-ha hängen geblieben. Da fällt es selbst den Emos noch schwer, das zu respektieren.

An anderer Stelle wirft er bei der Berichterstattung zu einem Boxkampf mehrmals mutig die N-Bombe. Fast schon zu oft, ich überlege ernsthaft, die Freundschaft zwei Minuten ruhen zu lassen, doch die Implementierung von Hamburger Unterweltgrößen in Texten rechtfertigt viel. Allerdings ist die Namensnennung mittlerweile gerichtlich verboten. Und N###-K#### setzt sich auch schon mal in den Flieger, um das Verbot durchzusetzen – wenn ihm jemand den Link des Stream-Mitschnitt zukommen lässt ;).

Rechts neben dem vorgenannten Autor hat einer der Hauptredner und Gründungsmitglied Platz genommen. Nach kurzem Warmwerden mit der Tatsache, dass ca. 150 Augen auf ihn gerichtet sind, fährt er routiniert sein Begrüßungsprogramm an die Unterstützer und an die Location ab, in der er normalerweise mit weniger Worten an den 1210ern steht.

Die Erfahrungen aus dem Nachtleben beeinflussen auch seinen ersten Text, viel Party, viel Alkohol, viel Sport, bauliche Veränderungen seiner Heimatstadt. Etwas verloren und ausgebrannt findet er sich Ikarusmäßig an umgebauten und unbekannten Plätzen einer altbekannten Stadt, führt Selbstgespräche mit sich sowie Beistehenden und stellt Liebespärchen hinterher. Völlig bodenständig also, aber mit viel Tiefsinn. Dazu der Einspieler „Alkohol“ („Immer wenn ich traurig bin… Alkohol!“) von den Krähen, anscheinend Legenden aus Stuttgart.

Seinem zweiten Beitrag zufolge gab es in Stuttgart eine Preisverleihung für talentierte Musiker, Komet oder so. Die zwei von KTV durften zwar nicht entscheiden, aber verleihen. Einprägsamer waren jedoch die Running-Gags der anwesenden B-Prominenz, die mit den Entwicklungsdifferenzen diverser Kindheiten zu tun hatten. Im Grunde war die Frage, wer damals zu leicht oder zu fett für den Stuhl im Planetarium war wichtiger als Gewinner jeglicher Awards.

Und da der mit den Dreads und dem roten Bart, der zwei Plätze weiter rechts sitzt, wohl nicht gewonnen hat, kann man offensichtlich auch nicht von Vetterleswirtschaft sprechen. Oder gerade doch? Auf jeden Fall sitzt da, aus welchen Gründen auch immer, ein recht erfolgreicher Musiker (Video auf MTV), stadtbekannter Musik-Kritiker und Freund der geschwärzten Wörter. Daher mir auch gleich sympathisch.

Energisch haut er mit ausdrucksstarken Worten auf den Tisch, beschönt nichts, kratzt am Glanz der örtlichen Fussballhelden und lokalpatriotischen Seifenblase. Da wird gef##, gevö## und viel gek###. Er verweist auf die Nutzlosigkeit der „Meine-Stadt-f##-deine-Stadt“-Nummer und hebt die Leute hoch, die diese bewohnbar machen, die unscheinbaren Nebenrollen, die Aggro-Prolls, die nett sein können und die Glamourgirls, die auch mal hart stinken. Potentiell reaktionär und subversiv bekommt auch die herrschende sowie abgewählte Macht ihr Fett weg, ein Rundumschlag, den die meisten schon länger verdienen. Guter rechter Haken, gefällt mir!

Deutlich gewählter und gelassener präsentiert sein linker Nebensitzer, seine Zeichens gutgekleidetes und hart-tätowiertes Gründungsmitglied, seine DJ-Erlebnisse bei Musikwünschen. Geht wohl jeder eigen mit um, er ist eigentlich eher der gute Bulle am DJ Pult. Doch wenn man mit dem eigenen Feindbild verglichen wird, kann der Krug auch mal vorzeitig brechen. Er bleibt wohl eher cool, andere DJs würden da schon mal mit unverhältnismäßiger Gewalt rausschmeissen lassen.

Dahin wo es weh tut geht der Autor auch bei seinem nächsten Augenzeugenbericht: Die Actually- und Wannabe-Upper-Class hatte zum Tanz im Porsche Museum geladen. Pflichtbewusst und bestmöglich angezogen wirft er sich in den Cocktail von teurem Champagner, billigen Kleidern, falschen Titten und hohlen Worten. Mit einer feinen Brise an Sarkasmus und Selbstironie beschreibt er Schein und Sein der in die Jahre gekommene Szene, berechnet den Weißhemdenanteil und schätzt selbstbewusst die vorhandenen Berufsstände ein, bleibt dabei jedoch immer knapp über der Gürtellinie.

Die beliebte Gürtellinie visiert ein anderer Aufschreiber und Vorleser an: Mir bisher nur als gut-gelaunter Vespa-Verfechter bekannt, hat der Geiger seit kurzem bei der Party- und Turnschuhbild angeheuert. Musikalisch ist irgendwo zwischen Van Halen und allem, was so läuft, angesiedelt – spässle, gell. Das wirksame Motto „Sex sells“ hat nicht nur bei den fuckingBed-Partys funktioniert, das verkauft sich auch bei seiner Beschreibung von verrucht/verwerflichen Sauna-Praktiken in Nachbarbundesländern.

Sauna ist nicht so mein Fall, bekomme da einige schlimmer Bilder vor Augen, bin aber basserstaunt, was man sich da alles für Mottos einfallen lässt: Mittelalter, Fasching und 70er Disco zum Soundtrack von EAV und Co. In der Sauna. Aber wie zum Teufel sahen nackte Leute im Mittelalter aus? Klingt nach Selbstgeißelung, muss das nicht unbedingt erlebt haben.

Doch je mehr Fäkalwörter und Schmutzigkeiten durch die Mikros gepresst werden, desto mehr Leben kommt in die Bude. Schon ganz am Anfang der Vorlesung werden Blumen und eine Flasche Klarer ans Pult geliefert, die Stammkundschaft sowie Fankurve ist treu und dankbar. Der Geburtstagskuchen hat Geschmack und wird sozial im Raum verteilt, auch der Slivo wird nicht groß eingelagert.

Dieses Glückseligkeit-Sprungbrett nutzt jemand, der bis dato für mich visuell nicht zuzuordnen war. Saß brav in der Ecke, hat nicht groß geredet, aber auch nicht serviert oder Flaschen abgeräumt. Als sich kristallisiert, dass der Berlinmäßig-gutaussehende, hörbar unschwäbische Ex-Lift-Praktikant war und extra aus Berlin angereiste, brannte Jubel auf: Es ist der junge Herr, der einst mit Cosimo in die Hauptstadt fuhr.

So konnte sich der Magie seines Erlebnisses keiner entziehen. Die unglaubliche Reise einer Schicksalsgemeinschaft von Stuttgart nach Berlin in einem Sozialkarussell voller Popgrößen und Straßenphilosophen klingt fast schon unwirklich manipuliert. Der Hörer bekommt ungeahnte Einblicke in noch ungeahntere seelische Abgründe, ähnlich der ersten S-Bahn Sonntag früh, bloß mit mehr Text.

Weise Worte, dunkle Phantasien und entwaffnende Blöße, man weiß nicht genau, ob man weinen oder lachen soll – unbewegt bleibt hier keiner sitzen. Und obwohl der Berliner noch eiskalt am Hans-Im-Glück-Brunnen über selbigen und seine Besucher ablästert, wird sein Bericht das absolute Highlight der Show, perfekt geschrieben, noch besser vorgetragen mit beachtlicher Imitations-Talenten. Frenetischer Jubel, standing ovations (die meisten hatte eh keinen Sitzplatz).

Nach dem Höhepunkt der Schreibleistungen springt noch geschickt ein Hip-Hop-Artist auf die Welle, heißt Schwarz, ist weiß, kann gut rappen und trifft mit seiner Stuttgart-Hymne punktgenau ins Herz vom Publikum.

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Eigentlich warte ich jetzt nur noch auf die Rückkehr von Gottschalk und die Luftballons, die von der Decke regnen. Stattdessen tritt Cutmaster Crupa in Aktion, verantwortlich für den technischen Support und Netzwerk-Kram, bei denen die andern soviel Ahnung haben wie ich von Thermodynamik.

Aus dieser Position heraus fängt er das ganze Jahr über die besten Google-Suchanfragen ab, dokumentiert, was verlorene Seelen durch das Netz geistern und bei KTV aufschlagen lässt. Wir klären, wann man am besten nachts die besoffenen Weiber abgrätschen kann, erfahren den DJ-Namen, den keiner hat, lernen, aus was Jutesäcke gemacht sind und fragen uns, wie man die Geister, die man rief, wieder los wird.

Dann kommen endlich meine Luftballons von der Decke, Gottschalk gratuliert den Autoren, Lesern, dem Blog und allen, die eingeschaltet haben zum Geburtstag. Vergnügt und unterhalten schnappt man draussen etwas Luft oder 2-3 Kurze.

Der nächste Birtday-Plan „Rollerausfahrt“ muss leider wetterbedingt verschoben werden, daher Samstag abends dann direkt ins WuF. Bin dort allerdings nicht der Einzige. Ohne Türsteherschmeicheleien oder DJ-Kumpels geht ab 01:00 nichts mehr. Zwischenzeitlich muss sogar der Zugang von EG zu OG gesperrt werden, voll Loveparademäßig. Musik super, Anlage neu und Dauer-Hüpfen mit guten Leuten is jeden Verzicht wert – man siehts den Leuten an, die aufs Klo und jetzt an der Treppe warten mussten. Irgendwann um Fünf geht das Licht im Club an und bei den meisten im Kopf aus. Völlig zurecht, so ein Blog wird ja nur einmal Drei.

Nächstes Jahr dann mit Charity-Gala in der Schleyerhalle. Oder wahlweise Porsche-Arena, hängt noch von den Verhandlungen mit den Öffentlich Rechtlichen ab. Und natürlich von euch / uns. Ohne Schreiber keine Leser, ohne Comments kein Zwopunktnull.

Happy Birthday!

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