Wann wieder stay fancy?

Es gibt Menschen, die kennen von Stuttgart nur Möhringen. Und finden, das ist eine schöne Stadt. Sie sind in Augsburg oder Schweinfurt morgens in einen modernen Reisebus gestiegen und in das Mekka der Musicalliebhaber gereist.

Allerdings ist das schon ein bisschen her. Aktuell spielen sie im SI-Centrum – das 1994 ursprünglich als „Urban Entertainment Center“ konzipiert wurde – wie überall die Stücke ‚Sars-Covid‘ und ‚Lockdown II‘. Und der mystische Ort, den ich noch als Acker kenne, bevor die Deyles und die Daimlers beinahe Hand in Hand kamen, ist dadurch noch ein bisschen mystischer geworden.

Dort, wo früher Filderkraut wuchs, steht heute unter anderem eine Spielbank, eine Sauna- und Wellness-Landschaft und ein deprimierendes Gebäude mit Business-Suites. Alles irgendwie weder system- noch sonstwie relevant und das SI-Centrum muss sich die Frage gefallen lassen: Kann ich den Spitzkohl bitte nochmal sehen? 

Jetzt wächst da eben ein Wolkenkratzer in den Himmel, auf dem riesengroß DORMERO steht. Davor parkt im Februar 2021 einsam ein VW Passat mit der Aufschrift: Dormero, stay fancy. Und wenn für Menschen aus Orten wie Schweinfurt ja wohl eines ausgefallen/kunstvoll/ extravagant/oder eben fancy ist – dann ja wohl schlafen ab dem 5. Stock aufwärts.

Hier hatte ich fast mal den Schlüssel zu. Als ich kurzfristig in einer namenlosen Cover-Band mit zwei Menschen gespielt habe, die beide beim Musical gearbeitet haben. Damals noch Miss Saigon. Was mehrere Vorteile hatte: erstens konnte der Sänger endlich mal singen, weil er das von der Pike auf gelernt hatte und beruflich machte. Zweitens haben wir erst nach deren Dienstschluss mit der Probe angefangen. Und 22.30 Uhr ist einfach eine bessere Zeit für Rock’n’Roll als nach’m Daimler um halberfünfe.

Drittens – und das war eigentlich das beste: Wir haben in den Proberäumen der Muscialmusiker geprobt. Im bestaufgeräumtesten und sogar staubgesaugtesten Proberaum aller Zeiten. Ich hab vielleicht schon in besseren Bands gespielt – aber nie wieder mit besserer Infrastruktur.

Das wird jetzt die Musical-Betreiber und das Stadtmarketing vielleicht nicht so freuen: aber ich finde es ziemlich beruhigend, dass ich auswärts noch nie darauf angesprochen wurde, dass ich ja „aus der Musical-Metropole Stuttgart“ käme. Was dagegen immer passiert, ist, dass man für die beiden Automobilbauer gelobt wird – vor allem in den USA – als ob man was dafür kann. You know, Autostadt Nummer 1, das Detroit Deutschlands…und sofort gehen die Daumen hoch.

Die Daumen runter gehen, wenn du auf Fussi-Fans triffst: Ah aus Stuttgart. Oh je Oh je. Der VfB. Habt Ihr nicht…? Nee, haben wir nicht… jetzt haben wir aber…

Und was auch passiert, wenn du auf der falschen WG-Party landest, ist, dass ein Gäste-Clown dich fragt, ob der Bahnhof jetzt endlich fertig sei. Soviel zur Außenwahrnehmung Stuttgarts. Musical ist da nicht unter Top 3 Topics.

Die SchwabenQuellen im Februar 2021. Der letzte Erlebnis-Aufguss ist irgendwie schief gegangen. Stimmt es eigentlich, dass sich da eine gut florierende Swingerszene trifft? Hab ich mal gehört. Wenn’s stimmt, frage ich mich, warum die nachm bumsen nicht ordentlich aufräumen können.

Danke Netflix oder danke Merkel? Bin nicht sicher, wer mehr für den Untergang der Multiplexe getan hat. Früher gabs in Möhringen nur das Gloria. Das Schwester-Kino vom Corso in Vaihingen. Das Schwesterchen hat überlebt, weil Nische und Spezialisierung.

Das Gloria musste irgendwann schließen. Zum Glück erst, nachdem ich dort illegal und vollkommen under-aged „Flammendes Inferno“ gesehen habe. Und Zombie! Also vor der Zombie-Welle gab’s tatsächlich einen Film namens ‚Zombie‘. Und das Interweb weiß über den Inhalt:

Ein grausiger Virus macht die Menschen zu hirnlosen Zombies, die die wenigen noch lebenden Menschen bedrohen. Ein paar von ihnen verbarrikadieren sich in einem Kaufhaus. 

Klingt leider, als hätte jemand die Gegenwart vorhergesagt.

Das wahre Möhringen, das weder Urban Entertainment Center noch Europapark-Plastik-Musicaldorf ist, das gibts auch noch. Ich mag, wie sie die Eiscremetütendeko, die sonst auf der Straße steht, coronabedingt im Schaufenster geparkt haben.

Hat seit Dezember geschlossen. Ich kann das nicht bewerten, da ich seit 1 Jahr nicht mehr dort war“ – schreibt Renate über die Eis Cortina ins Interweb. #dfdi in Reinkultur. Nimm dir bitte einen Bollen Pistazie für diese Info, Renate.

Wertvoller dürfte da folgender Erfahrungsbericht sein: Ich dachte jahrelang, alle Eisdielen heißen Eis Cortina und nicht Eisdiele oder Pinguin. Ich bin davon ausgegangen, dass Cortina der feststehende Begriff dafür ist, dass jemand Eis verkauft. Das war allerdings zu Zeiten, als der Bobbl Eis noch 25 Pfennig gekostet hat. Überleg mal – das waren 12,5 Eurocent.

Zitrone war das beste, gefolgt von Stracciatella, beides zusammen die ganz große nordische Kombination. Bei einer Kugel gabs nur so ne billige Datsch-Waffel-Tüte dazu. Ab drei Kugeln gab’s ein Upgrade auf die bessere, die geriffelte Waffel, die mit dem Waffelmuster und dem Waffelgeschmack. So wie die oben im Schaufenster, the real thing. Ziel war also immer, 75 Pfennig zusammenzuklau(b)en.

Vor der Eiscortina habe ich zusammengerechnet sicher 10 Jahre meines Lebens verbracht. Erst auf dem schwarzen Motobécane Rennrad, später auf der Yamaha DT80. Man saß da einfach auf seinem Gefährt mit Freunden, weil man wusste, dass früher oder später eh jeder vorbeikommt. Und alle 12 Minuten auch der 72er. Der Fassi-Bus. Möhringen-Fasanenhof und zurück. Und weil im Fasanenhof die coolen Jungs und die frühreifen Mädchen wohnten, war es wichtig, vor dem vorbeifahrenden 72er eine gewisse Nonchalance an den Tag zu legen.

Wer mit dem Rücken zum nahenden Bus auf seinem Rad/Krad saß, wurde von den anderen mit den geflügelten Worten gewarnt: „Cool wirken. Fassi-Bus kommt.“ Man beachte bitte die feine Nuance, dass wir uns und den anderen offensichtlich nicht zugetraut haben, cool zu sein.

In Möhringen willst du nicht über’m Zaun hängen, sagen die Hater. Denen man am liebsten zurufen möchte: wenn’s dir nicht passt, kannst du ja gehen: zwanzig Meter vor den Toren Möhringens beginnt schon das nächste große Abenteuer:

Eine gastronomische Legende, die leider seit Jahren geschlossen hat. Hier gabs das beste und größte panierte Schnitzel der Stadt. Und es wurde unaufgefordert mit Spätzle und Soße serviert. Man hat auch im Alter Ü30 noch das Kinderschnitzel genommen und bekommen, weil die Erwachsenen-Version nicht zu schaffen war.

Der Märzenbaum war ein beliebter Mittagspausen-Treffpunkt für die GIs aus den Kelly Barracks. Bedient wurden sie von der ebenfalls gastronomischen Legende Maria. Maria sprach fließend Deutsch und Schwäbisch. Und ein paar Brocken Englisch.

An einem besonderen Tag gab es ‚Schwarwald-Wildhase‘ auf der Karte. Und Maria versuchte, das den amerikanischen Soldaten zu erklären, indem sie Hasenohren mit ihren Händen formte, durchs Lokal sprang und übersetzte: „Black Forrest hoppel hoppel“. Klingt wie eine Geschichte aus dem Paulanergarten, war aber wahr und ich war Zeuge.

Maria and The Märzenbaum blieb den Amerikanern wohl unvergessen – wie auch diese Google Rezi zeigt:

Actually, I was a young man of 19 when I first had my first beer in this place.  It was a fantastic place. then. Many an American stationed at Kelly spent their lunch hour here.  This was the place to eat a wienerschnitzel mit pommes frit or a goulash soup.  Hope it is as good today as it was then“ bewertet dort ein Mr. Alvarado – der allerdings Spätzle falsch geschrieben hat.

Und jetzt ratet mal, wer dem Löwen den Steinschwanz beim Spielen abgebrochen hat! Na? NA?? NAAAA? Genau, der Rainer Weller war’s, die Sau.

Die Bierstube Möhringen mit der Sensations-Google-Rezension – „Seit August 2020 hat Kathi übernommen. Jetzt 60% lustiger“ – die gab es damals nicht. Oder ich hab sie übersehen. Im Bermuda-Dreieck rund um den Möhringer Bahnhof gab es das Ständle. Wo die Pommes rot/weiß eine Mark 20 gekostet hat. Das sind 60 Euro-Cent, Ihr Vögel. Dafür kriegst du heute n Tütchen Ketchup und n Tütchen Majo, aber keine Pommes.

Ein beliebter Trinker-Hotspot war auch das „Trittbrett“ direkt gegenüber vom Jugendhaus. Aus dem wir mehr als einmal den Kumpel Wuschel rausziehen und nach Hause bringen mussten, weil er dem Aktions-Angebot Klarer Korn für 80 Pfennig = 40 Euro-Cent nicht widerstehen konnte. Wann wieder solche Schnaps-Preise?

Verschenkekiste, Möhringen-Edition. Hier kannst du dir einen halben Friseur-Salon mitnehmen und am 1. März aufmachen. Was eigentlich ganz praktisch ist, wenn du zum Beispiel einen Brautmodeladen hast und nicht weißt, wann wieder Brautkleid, Herr Drosten? Und wann endlich wieder stay fancy?

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3 Comments

  1. says: Axel

    Auf dem Acker den du erwähnst, wo jetzt Daimler drauf ist, war auch ein umzäuntes Gelände mit mehreren Hundezwingern dort hat jemand grosse Kampfhunde gezüchtet Mastino Napoletanos ein Plakat mit einem solchen Hund stand auch zur Strasse hin. Haben wir auf dem Weg vom Möhringer Freibad zum Asemwald immer zum gruseln übern Zaun geguckt. Waren furchterregende Tiere !

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