Re.Flect Plattform: Kulturelles Brachland

Ich durfte in der aktuellen Ausgabe des re.flect wieder die Plattform-Kolumne beisteuern.

…Und sagt, dass er seine Stadt eigentlich gar nicht mag. Er kenne Wien, kenne Prag und müsse endlich fliehen und nach Berlin ziehen. Stuttgart sei für ihn nur kulturelles Brachland. (Brachland? Haste noch alle Tassen im Schrank?)

Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir 23 Jahre später ein paar Schritte weiter sind. 1996 brachte Schowi bei der Stuttgart-Hymne aller Stuttgart-Hymnen „Mutterstadt“ von den Massiven Tönen das auf den Punkt, was scheinbar bis heute junge Leute in der Stadt beschäftigt.

Es geht mir gar nicht darum, Stuttgart an sich gut oder schlecht zu finden. Stuttgart ist genau so gut oder schlecht wie jede andere Stadt, in der man aufgewachsen ist oder die man sich freiwillig oder unfreiwillig als Wohnort ausgesucht hat.

Es geht um die Frage, warum viele – und erschreckenderweise oft junge – Leute Stuttgart als so provinziell hinstellen. Indem sie Stuttgart mit anderen Städten vergleichen. Wobei es natürlich einfach ist, dabei unsere Stadt Scheiße dastehen zu lassen, wenn man sie mit Berlin, Paris oder New York vergleicht.

Wobei ich das bis zu einem gewissen Punkt ja nachvollziehen kann. Viele der Nörgler kommen – wie ich – vom Dorf und haben sich schon immer nach oben orientiert. Der Heimatort muss in der eigenen Weiterentwicklung abgewertet werden, um den nächsten Schritt – der Umzug in die am nächsten erreichbare Stadt, in diesen Fällen Stuttgart – zu wagen, umzusetzen und zu begründen.

Doch bald ist man natürlich auch in Stuttgart angekommen, kennt sich ob der überschaubaren Größe schnell aus und sieht und spürt auch die Nachteile der bis vor kurzem noch heilversprechenden neuen Heimat. 

Und der nächste Schritt scheint heute noch näher und einfacher denn je. Für 29 Euro für ein Konzert nach Berlin, für 59 Euro übers Wochenende nach Barcelona. 

Das ist billig, macht Spaß und wirkt kosmopolitisch. Dann teilt man seinem Umfeld als Mikro- oder Makro-Influencer mit, dass es in dieser einen Bar die besten Tapas in ganz Madrid gibt. Nachdem man natürlich nicht alle Tapas-Bars in Madrid getestet hat, sondern nur der Empfehlung einer Bloggerin gefolgt ist, die ebenfalls nur eine Tapas-Bar in Madrid kennt.

Und dann ist es natürlich ein Leichtes, sich zu beschweren, dass es in Stuttgart ja gar keine richtigen Tapas gibt. Weil Stuttgart ja so provinziell ist.

Der Gipfel der Selbstabwertung sind Listen, die Stuttgart dann direkt mit anderen Städten vergleichen. „Hier fühlt sich Stuttgart (fast) wie Berlin an“, „Hier fühlt sich Stuttgart (fast) wie Paris an“, … Echt jetzt? Was sollen diese Vergleiche? Will man damit sagen, dass Stuttgart zwar Scheiße ist, aber doch nicht so ganz, weil an ein paar Ecken sieht es fast aus wie irgendwo, wo es viel viel geiler ist? Und wenn ja, was hilft das?

Kaum ein Text, ob in einem Blog oder in einem privaten Facebook-Post, kommt ohne eine Einleitung aus, die Stuttgart klein macht. „Obwohl die Leute hier sonst ja engstirnig sind…“, „Stuttgart ist ja sonst nur Spätzle, Kehrwoche und Stau“, und selbst die Vorstellung eines vermeintlich modisch interessanten Menschen (mit schwarzer Hose und schwarzem T-Shirt) kommt nicht ohne den Hinweis aus, dass die Stuttgarter in Sachen Mode „ruhig mal mutiger sein könnten“.

Leider basiert die Einschätzung dieser Nörgler oft – wie viele aktuelle politische Debatten – auf gefühlten Wahrheiten. Bus und Bahn sind in Stuttgart viel teurer als in anderen Städten? Nein, wir liegen beim direkten Vergleich im Mittelfeld. Es gibt ein Clubsterben und früher war alles viel besser? Nein verdammt, war es nicht. 

Ich finde es einfach schade, dass die Bemühungen ganz vieler Leute, einerseits die guten Seiten von Stuttgart zu zeigen – sei es mit Blogs, Instagram-Accounts, politischen Veranstaltungen oder Publikationen – und andererseits etwas auf die Beine zu stellen – mit Musik, Partys, Modelabel, Shop oder Galerie – von ein paar Schwarzsehern schlecht geredet werden.

Oder um es mit dem berühmtesten aller Zitate aus besagter Stuttgart-Hymne zu sagen:

Es ist nicht wo du bist es ist was du machst. Herzlich willkommen in der Mutterstadt.

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8 Comments

  1. says: Maith

    Aus der Sicht eines Zugezogenen kann ich irgendwie das Gefühl nicht los, dass Stuttgart alles will, aber viel davon nicht ankommt.

    Jemand, der Nischen sucht, findet sie irgendwie nicht. Es gibt nur die Innenstadt und die Innenstadt ist halt irgendwie kahl und steril. Und irgendwas ausserhalb des Kessels kommt nicht an, weil keiner raus aus dem Kessel will.

    Für mich selbst ist Stuttgart halt eine hässliche Autostadt ohne Flair. Das kommt dann halt rüber. Klar gibt es hier und da schöne Ecken, aber irgendwie sind das Oasen.

    In anderen Städten gehst du in die Stadt und machst irgendwas. In Stuttgart muss man planen. Man will im Sommer chillig sitzen – ab in den Palast (Achnee, der Flair ist weg, weil schön moderne Tische.) Man will irgendwie mit Studentenpublikum feiern – ab ins Schocken (gibts das noch?). Aber das sind nur punktuelle Orte. Und irgendwie ist das dann unattraktiv.

    Ich weiß nicht, ob das bei mir mit anderen Städten auch so wäre, wenn ich da leben würde, andere Städte haben da andere Schwingungen. Die lösen bei mir Emotionen aus, während Stuttgart bei mir nichts auslöst.

    Es gibt in Stuttgart sehr viele schöne Sachen und ich respektiere das, was die Leute auf die Beine stellen. Irgendwie wird dennoch immer woanders hingeschaut, das ist wirklich schade.

  2. says: Herr Cut

    Ich vermute mal es ist ein innerer Neid. Eine so kleine Stadt wie Stuttgart hat 2 der größten und besten Autokonzerne der Welt (Achtung!!! Welt) hervorgebracht. Dazu Premium Tuning by AMG. Dazu ein richtungsweisende Club Landschaft gehabt mit dem Prag, dem M1, dem Zapata etc. wir haben Maßgeblich die Musikkultur im Bereich HipHop in Deutschland geprägt. Unsere Straßen sind sauber und sicher. Bei uns wurden zugezogene schon immer gut integriert. Wir sind, auch wenn langsam, offen für Veränderungen. Die größten Mineralquellwasser Vorkommen (ich glaube Europas??). Stuttgart ist Stadt und Grün zugleich. Vielleicht hat man hier einfach genug Zeit und Ruhe um über das nachzudenken was man gerne hätte.

  3. says: Chris Hoonoes

    Danke dafür! Ich hab auch am eigenen Leib (lebe hier seit 2008) erfahren, dass es einem diese Stadt nicht wirklich einfach macht.
    Hat bestimmt drei Jahre und ein schreckliches Erwachen in der Hahnemann gebraucht, damit wir zwei uns wirklich lieb haben.

    Stuttgart kann was, durchaus, und wer das Rückgrat hat, hier zu bleiben (oder einfach nicht die (finanziellen) Möglichkeiten, abzuhauen), wird irgendwann hier klar kommen.
    Allerdings, und das sind jetzt erfahrungswerte, kommt von nix halt nix. Wer sich immer nur beschwert, ohne den Willen was zu ändern und sich selbst zu bewegen, mutiert über kurz oder lang halt zum typischen Stuargarder Bruddler. Ischhaltso.

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