Herr Lehmann ist da: Sven Regener im Theaterhaus Stuttgart

Ich hab so ne Liste in meinen Notizen auf dem Handy, die heißt „kessel.tv“, und da notier ich mir Themen, die mir unterwegs einfallen, und über die ich irgendwann mal schreiben will. Vergess ich allerdings meistens. Da stehen Sachen wie „Google-Fragen“, „Schuhe aus“, „Parcours“, „15 Jahre Stuttgart“ (August letzten Jahres) und: „Musik fürs Alter“. Ich hatte nämlich irgendwann eine längere Phase, in der ich viel Johnny Cash gehört hab, und eine kürzere, in der ich Kettcar und Element of Crime gehört hab.

Dabei ist mir aufgefallen, dass ich noch vor ein paar Jahren eher an die Stadtbahnhalte Stadtmitte gekotzt hätte als solche Musik zu hören. Also hab ich’s aufs Alter geschoben. Jetzt bin ich aber noch älter, und die Phase ist schon wieder vorbei. Aber natürlich finde ich Johnny Cash immer noch überragend, Kettcar nicht mehr so und Element of Crime noch ziemlich gut. „Delmenhorst“ ist so schön sentimental dass es weh tut.

Nun hat mir Leser und Freund DaSven Karten für eine Lesung von EoC-Sänger Sven Regener im Theaterhaus geschenkt – der ja bekanntlich auch die u.a. mit Christian Ulmen verfilmten Herr Lehmann-Romane geschrieben hat. Ich hab mir nix weiter gedacht oder informiert und mich einfach auf den Abend gefreut. Ohne zu wissen, dass das ein fetter Blogger-Event ist.

Vielleicht hätte ich schon skeptisch werden müssen, als Blogger-Kollege Jan per Facebook fragte, ob jemand Bock auf Regener im Theaterhaus hätte, und Blogger-Kollege alx meinte, ja klar (der dann aber doch abgeklemmt hat). Oder spätestens, als ich im wie immer überfüllten Foyer im Theaterhaus das ein oder andere eindeutig als Fashion-Bloggerin identifizierbare Mädel gesehen habe.

Als dann Sven Regener pünktlich und ohne weitere Umschweife auf die Bühne kommt, wird dann relativ schnell klar, worum es bei „Meine Jahre mit Hamburg-Heiner“ geht: um verschiedene Blogs bzw. Blogeinträge, die Regener über die Jahre geschrieben und in einem Buch gesammelt hat. Und eben an dem Abend vorliest.

Dabei versteht Regener „Bloggen“ einerseits relativ klassisch – er redet auch vom „Logbuch“ und schreibt tatsächlich tagebuchartig – und andererseits relativ früh, also auch viel früher als wir, angefangen hat zu bloggen, nämlich 2005. Für ein unbekanntes Jugendportal einer Tageszeitung, für Spiegel Online zur Buchmesse und für den Österreichischen Standard zur VÖ einer neuen Platte.

Der rote Faden aller Blogeinträge und deshalb Titel des Buches ist Hamburg-Heiner, ein Freund (wie er Heiner in einem Telefonat selber bezeichnet, worauf dieser antwortet: „Wer sagt das?“), der ihn in verlässlicher Regelmäßigkeit anruft, bei Bedarf ohne große Umschweife zusammenfaltet und über die wichtigsten Regeln beim Bloggen belehrt. Zum Beispiel, dass man nie über Zugfahren, Züge, die Bahn oder Hartmut Mehdorn schreiben darf.

Hamburg-Heiner ist in diesen Dialogen immer sehr selbstbewusst bis besserwisserisch, Regener stets in Verteidigungshaltung und oft in Erklärungsnot. Hat mich stark an die Lesung von Heinz Strunk vor kurzem im Schocken erinnert – dessen Urlaubsbegleiter hatte ähnlichen Charakter, die Beziehung war ähnlich von Zurechtweisungen und Rechtfertigungen geprägt.

Die Lesung selbst absolviert Regener absolut trocken und in angenehmem norddeutschen Akzent, die Betonungen lassen die beiden Charaktere Regener und Hamburg-Heiner wachsen und immer wieder gibt es für mich inhaltliche Anknüpfungspunkte. Er erinnert sich an ein Lied von Deichkind „Nutten, Nutten, überall Nutten“ – ach nein, das wäre ja von DJ Thomilla feat. Spezializtz und Hausmarke. Er erzählt von einem Auftritt bei Inas Nacht, den ich damals tatsächlich zufällig gesehen und für gut befunden hatte.

In der Pause treffen wir Jan und Leserin No 2da Ra, es entspinnt sich eine überaus fachliche Diskussion zum Eurovision Songcontest, und Jan glaubt ernsthaft immer noch, dass Lena unter die Top 5 kommt. Kommen kann. (Wir haben schon länger eine Wette laufen: Kommt sie unter die Top 5, zahl ich eine gemeinsame Kneipentour, kommt sie unter die letzten 5, zahlt er. In der Mitte zahlt jeder selber seinen Scheiß).

Nach der Pause dreht Regener – im Rahmen seiner Möglichkeiten mit Stehpult, Laptop und Leinwand – richtig auf. Für den Österreichischen Standard-Blog muss er auf Geheiß von Hamburg-Heiner verschiedene deutsche Städte, die er auf einer Tour besucht, den Österreichern schmackhaft machen bzw. erklären. Nach vielen ehrlichen Schmunzlern komm ich spätestens jetzt nicht mehr aus dem Lachen raus. Ein paar Beispiele (hier nachzulesen):

Versuch über Berlin. Berlin ist die Hauptstadt von Deutschland und darüber hinaus aber für das Land von keiner großen Bedeutung. Die deutsche Industrie, die Banken, die großen Fernsehproduktionen, die Werbe-, Mode und Dienstleistungszentren sind alle woanders, Stuttgart, München, Frankfurt, Köln, Düsseldorf, Hamburg, aber auch Bielefeld, Gütersloh, Herford und Paderborn et al haben in dieser Hinsicht mehr zu bieten, sowohl strukturell als auch von der schieren Masse her. Deshalb ist Berlin den Deutschen im Großen und Ganzen egal. Ein Umstand, der den Berliner nicht weiter kümmert, denn das Hauptlebensmotto in dieser liebenswerten, nicht unterzukriegenden Stadt heißt: Nicht mal ignorieren.

Hier erfundenes Essen: Buletten, Döner, Bollenfleisch. Die Sprache hat viel Endemisches zu bieten: Das Weizenbrötchen heißt Schrippe, das Roggen-Weizen-Mischbrötchen aber Schusterjunge, der Berliner heißt Pfannkuchen und der Pfannkuchen Eierkuchen, das Butterbrot heißt Stulle, die es auch in der Version ohne Butter gibt als „Stulle mit Brot“. Stulle kann auch Adjektiv sein und heißt dann blöd. Ein adverbialer Gebrauch ist nicht zulässig. Freunde werden, wenn männlich, mit Keule oder Atze angesprochen, sehr gute Freunde auch schon mal mit Schrippe, aber das letztere ist rückläufig. Die Berliner glauben daran, daß sie nach dem Tod vom Zille-Expreß in den Zille-Garten am Alexanderplatz gebracht werden. Die Guten kriegen dann Schultheiß-Bier, die Bösen Zipfer.

Die noch lebende Erwerbsbevölkerung beschäftigt sich zu einem Drittel mit der Buletten- und zu einem Drittel mit der Dönerproduktion, der Rest schneidet sich gegenseitig die Haare oder macht Avantgardekunst. Einwohnerzahl: dreieinhalb Millionen. Berühmte Berliner: Heinrich Zille. Wichtige Accessoires: Schnauz, Hund, Sandalen mit Socken (nur Sommer). Unvergessen: Michael aus Neukölln beim Sat1-Glücksrad 1993: „Ick löse uff: Der Zwerg reinigt die Kittel!“ Wichtige Lieder: „Im Grunewald ist Holzauktion“, „Das ist die Berliner Luft“ und „Ich hab noch einen Koffer in Königgrätz“. Partnerstädte: Paris, London, New York und Graz. Wappen: Bär. Bundesland: Berlin.“

Versuch über Hamburg. Die Hamburger lieben ihre Stadt mehr als alles andere auf der Welt und sie führen dafür viele gute Gründe an: Hamburg hat mehr Brücken als Venedig, mehr Sonnentage als Rom, mehr Grachten als Amsterdam, mehr Hotdogs als New York, mehr Autonome als Kreuzberg, die Luft ist frischer als frisch, das Bier schlimmer als Schultheiß und in St. Pauli gibt es mehr Puffs als in ganz Ostwestfalen-Lippe. Der Hamburger hat mehr Sex als der Münchner, seine Cabrios sind offener, seine Frauen blonder, seine Rockmusiker schlauer, und die Currywurst wurde auch hier erfunden. Andere endemische Gerichte: „Birnen, Bohnen und Speck“, „Aalsuppe“ und „Schweinshaxe mit Kraut“.

Das Brötchen heißt Rundstück, die Anreißer vor den Puffs heißen Koberer, die Mädchen Deerns, klein ist lütt, der Elbsegler ist eine Mütze und Folklore wird großgeschrieben. Die Erwerbsbevölkerung arbeitet zu einem Drittel in der Werbung und zu einem Drittel in der Aalsuppenproduktion, der Rest singt in Shantychören und organisiert Hafenrundfahrten. Einwohnerzahl: ca. 1,8 Millionen.

Berühmte Hamburger: Johannes Brahms, Fips Asmussen, Hamburg-Heiner. Berühmte Hamburger, die eigentlich keine sind: Udo Lindenberg, Fritz Honka. Berühmte Hamburger, die eigentlich Wiener sind: Freddie Quinn. Der Bezirk Altona war bis 1938 eine eigene Stadt und wurde als Teil des Herzogtums Holstein von 1864 bis 1866 von Österreich verwaltet. Bekannte Hamburger Lieder: „In Hamburg an der Elbe“, „Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn“ und „Unser Königgrätz heißt Langensalza“. Partnerstädte: Poppenbüttel, Buchholz (Nordheide), Pinneberg, Graz. Wappen: Tor. Bundesland: Hamburg.“

Versuch über Köln. Köln ist eine Stadt, die von ihren Bewohnern abgöttisch geliebt wird. Gegen die Kölner Heimatliebe ist die Hamburger Hamburgbeweihräucherung der pure Selbsthaß. Als Nichtkölner etwas über Köln zu schreiben und gar zu veröffentlichen, das ist wie das Spielen mit Nitroglyzerin. Ich bin doch nicht bescheuert! Nur so viel: Köln ist gut katholisch und liegt leicht südlich der Benrather Linie.

Endemisches Essen: Himmel un Ääd. Die Sprache, die hier gesprochen wird, heißt Kölsch (vgl. Bap, Brings, Bläck Fööss et alteri). Das Bier, das man hier trinkt, heißt auch Kölsch. Ein Drittel der Erwerbsbevölkerung beschäftigt sich mit der Herstellung von Kölnisch Wasser, ein anderes Drittel spielt in Kölsch-Rock-Bands. Der Rest bereitet den Karneval vor. Einwohner: knapp eine Million. Hier hat niemand eine Meinung zu Königgrätz etc., weil Österreich nicht in Köln liegt und deshalb unbekannt ist. Allerdings liegt mitten in Köln und gleich beim Dom die Bäckerei Metternich.

Berühmte Kölner: Willi Millowitsch. Berühmte Kölner, die keine sind: Alice Schwarzer. Berühmte Kölner, die eigentlich Wiener sind: Toni Polster. Beliebte Kölner Lieder: Mer losse d’r Dom en Kölle, Viva Colonia. Wappen: Flammen und Kronen. Bundesland: Nordrhein-Westfalen.“

Ich hoffe, dass Regener nach seinem Besuch in Stuttgart auch mal einen Versuch über Stuttgart schreibt. Kann er auch gerne hier machen. Einen Tipp hätte ich schon mal:

Ein Drittel der Erwerbsbevölkerung schafft beim Daimler, ein anderes Drittel schafft beim Bosch, der Rest kommt aus Reutlingen.

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11 Comments

  1. says: martin

    sehr schön und wir haben als Eisenbahner und VVS-Fans wenn es nach hamburg-heiner geht schon oftmals total versagt.

    „Zum Beispiel, dass man nie über Zugfahren, Züge, die Bahn oder Hartmut Mehdorn schreiben darf.“

  2. says: Kizilgerdan

    Das (Log)buch von Regener ist wirklich lesenswert. Ich habe mir das neulich mal gekauft. Die Empfehlung auf 3sat suggerierte zwar völlig andere Inhalte. Aber egal! Für gut befunden! 🙂

  3. says: gusteau

    Killesberg Baby nicht zu vergessen:
    „Sie war mein Killesberg Baby – ich bin aus Heslach
    Sie sagt: von meinem Zimmer aus kann ich die Stadt seh’n
    Ich sag‘: ich kann mich schon an meiner Straße satt seh’n“
    sind jetzt keine Regener lyrics, aber feel the heartbeat

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