Zwischen lüften und wichteln: Über den Schulalltag 2020

Unsere Gastautorin Aycin, Lehrerin im Großraum Ludwigsburg, ist back on da Lüften-Track und gibt einen Einblick in den Schulalltag Herbst/Winter 2020.

„Abstand! Setz deine Maske auf! Richtig! Über die Nase!“

Frühere Jobbezeichnung „Lehrerin“. Heute „Corona-Polizei“, höre ich Schüler sagen. Der Start in den Schultag, während man Kollegen im Schulhaus mit einem nett gemeinten, aber sehr komischen Augenblinzeln guten Morgen sagt. Im Schulhaus würde man sich mit Maske und Lärmpegel nicht hören. Lächeln, meine größte Waffe, ist heutzutage überflüssig und wie ein maskierter Zombie will ich den Tag nicht starten. Also blinzeln wie ein Grundschüler, der im Stuhlkreis ein Spiel spielt.

Oben aus der Puste angekommen, obwohl ich nicht mal Risikopatientin bin, denke ich, versuche ich der Schülerschar aus dem Weg zu laufen, wie in dem Computerspiel, in dem Lehrer vor Schülern weglaufen müssen, um Abstand zu halten. True Story. In den Sinn kommt mir auch der Spruch aus dem Netz Ciao, ich geh arbeiten und treffe 300 Haushalte, Gruß Lehrer.

Kaum wurde mir von meinem Umfeld eine Frage öfter gestellt, als die, wie es denn gerade in der Schule läuft. Nun ja, die Luft halte ich im Schulhaus nicht an, aber ob ich die Türklinke der Schule jemals ohne den Gedanken des Desinfizierens anfassen kann, weiß ich nicht. Gerade wissen wir vieles nicht.

„Findet die Praktikumswoche dieses Jahr statt?“, fragt der eine Schüler. „Haben wir länger Weihnachtsferien?“ der andere. Unterricht beginnt und schon höre ich mich dieselben Sätze immer wieder wiederholen: „Can you repeat it? Please say it again!

Keine Seltenheit, dass man Schüler im Englischunterricht nicht versteht, aber aktuell passt Enkodieren jedoch besser, denke ich mir, während ich eine leise Stimme aus der Spiderman Maske empfange. Was könnte er gesagt haben? Ist das der Ich-muss-auf-die-Toilette-Blick oder doch eher der Ich-hab-kein-Englischbuch-Blick? Diese Blicke ähneln sich in Klasse 5. „…. Toilette?“. Ich notiere den Namen auf die lange WC-Besuch-Liste zwecks Nachverfolgung.

Endlich darf die 5. Klasse Englisch sprechen lernen. „All right, I say the word and you repeat it. –TH-ank you. Put your tongue between your teeth and…“

Das th sollte jetzt gut gelernt werden und schon kreisen meine Gedanken wieder. Ich habe eine Maske auf und sie wissen nicht was tongue bedeutet. Zeigen geht auch nicht. Jetzt versuche ich das th ganz laut auszusprechen, sodass sie einen Eindruck bekommen können und plötzlich klingelt der Wecker. Nein, es war kein Traum, sondern der ultimative 20-4-20 Küchenwecker alias der Lüftungswecker. Yeah!

Jedes Klassenzimmer hat einen Wecker bekommen, aus dem dieser herrliche Sound eines Weckers ertönt, den man aus der eigenen Schulzeit, den 90ern, kennt. Der aufgeweckte „Fensterdienst“ springt auf und die Schüler rennen wie fleißige Mainzelmännchen in alle Richtungen. Während die Eine alle Fenster öffnet, öffnet der Andere die Tür und here we go – nacheinander öffnen sich die Türen im Schulhaus und der herrliche Wecker-Kanon kann starten.

In Klasse 9 sieht das weniger dynamisch aus. Weniger Mainzelmännchen, mehr Flash und jedes Mal meine überraschende Weisheit: „! ALLE ! Fenster“ gefolgt mit der erneut überraschenden Diskussion, wie lange doch 4 Minuten sind, während sie bauchfrei in Hipster XXXL Bomberjacke oder eingerollt in ihren Häschen-Kuscheldecken auf ihren Stühlen sitzen.

„Dürfen wir Gruppenarbeit machen?“ Nein, dürfen wir nicht. „Darf ich was trinken?“ Ja, hinten im Eck und hol‘ dein Mathebuch raus. Ein Schüler liest vor: ,,In einem Fußballstadion sind 50.000 Zuschauer. 10 % davon sind… das war noch vor Corona!“ sagt er, während alle lachen. Ich lächle und es sieht keiner…

Diesmal klingelt nicht der Wecker, sondern die Pause fängt an und auf geht‘s zum Flugplatz: Ich winke den 6. Klässlern zu, in eine Richtung zu laufen, damit sie in ihren eigenen Pausenbereich gehen. Der anderen Klassenstufe zeige ich ein Stoppzeichen und schreie durch die Maske „Wartet noch bitte bis die 6er durchgelaufen sind.“ Für die bessere Dramaturgie stellt euch am besten vor, wie ich das über ein Megaphon mache.

Daraufhin zeige ich Richtung Tür und beobachte mich, wie ich auf die markierten Pfeile auf dem Boden hinweise- wie eine Flugbegleitung. Komme ich mir lächerlich vor? Ja, definitiv! Ich grinse in mich hinein und möchte innehalten, während ich gleichzeitig Türsteher werde. „Stopp! Du darfst hier nicht sein. Das ist der Bereich von Klasse 7 und du bist in Klasse 6. Geh zurück in deinen Bereich.“

Nachdem die Aufsicht rum ist, gönn ich mir einen kurzen Besuch im Lehrerzimmer, wo heiße Diskussionen mit Abstand und blauen Krankenhausmasken geführt werden und ich nur einen Bruchteil aus jedem Mund höre: „Sag mal, wie machen wir es nächste Woche mit Schülern, die in Klasse 6 sind und nicht in die Schule kommen? Wörterbücher? Um Gottes Willen, die können wir nicht mit der Parallelklasse teilen! Ich hab kein Ipad! Wer zahlt denn nun die FFP2 Masken? Hast du die Gesundheitsbestätigung bekommen?

Müde von Corona-Themen drehe ich an der Tür um und höre plötzlich: ,,Hey Aycin, ich gehe Arbeitsmaterialien an Quarantäneschüler verteilen, hast du noch weitere Matheaufgaben?“ Ich merke das Bedürfnis einmal tief ausatmen zu müssen und suche einen Ort, wo ich an die frische Luft kann.

Meine Gedanken sind wie im Frühjahr wieder laut, nur ist es gerade noch ernster. Wir müssen da jetzt alle durch. Jaja, haben wir jetzt oft gehört, aber so ist es nun mal. Der Schulbetrieb läuft anders, aber er läuft. Einer meiner Schüler kommt mir entgegen und fragt mich schüchtern, ob wir dieses Jahr Wichteln dürfen. Fast hätte ich nein gesagt, doch mich hat seine Game-Over-Maske getriggert und einen Moment nachdenken lassen, zum Glück. Ja, das machen wir! Schön, wenn etwas wie früher ist, denke ich mir.

Ich fahre heim, wie früher, und stelle mir die Frage, ob ich lieber Homeschooling hätte.

Ich finde keine Antwort.

Ich stelle mir die Frage, wie ich heute abschalten könnte.

Ich finde keine Antwort.

Ich stelle mir die Frage, ob es unvernünftig wäre, meine Eltern zu besuchen.

Ich finde keine Antwort.

Ich stelle fest, dass ich eine Arbeit und Familie habe, für die ich dankbar bin und gehe das Wichtelgeschenk kaufen.

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