Wahlen in Stuttgart: Bericht von einem Wahlvorstand

Unser Gastautor Dirk Baranek ist seit vielen Jahren als Wahlhelfer aktiv. Dieses Jahr wurde er kurzfristig zum Wahlvorsteher in S-Süd berufen.

Seit längerem bin ich als Wahlhelfer im Einsatz. Dazu hatte ich mich mal vor Jahren bereit erklärt, als ein entsprechender öffentlicher Aufruf der Stadt erging. Seitdem werde ich regelmäßig zum „Beisitzer in den Wahlvorstand für den Wahlbezirk 12-34“ berufen.

Ich bin dann einer von denen, die in eurem Wahllokal sitzen und den Vorgang vor Ort organisieren. Einer von denen, die checken, ob ihr wählen dürft, euch die Stimmzettel aushändigen und zeigen, wo ihr den reinwerft.

Das ist das was ihr seht, aber eigentlich machen wir natürlich noch viel mehr. Jedenfalls bin ich seit Jahren in dem gleichen Wahllokal in Stuttgart-Mitte im Einsatz, verteile einen halben Tag Stimmzettel und mache bei der Auszählung mit. Easy, chillig, nix wildes. Bei der Wahl letzte Woche kam jedoch alles anders als ursprünglich geplant.

Montag, 20. Mai, 19:25 Uhr
Das Statistische Amt der Landeshauptstadt Stuttgart, das die Wahlen organisiert, ruft mich auf dem Handy an. „Wir haben hier ein großes Problem.“ Ein Wahlvorsteher musste absagen. Ob ich bereit wäre, in Stuttgart-Süd als eben solcher einzuspringen. Sie rufen nun erstmal die Beisitzer an, die das schon öfter gemacht haben und somit über ein paar Erfahrungen verfügen. Ich sage spontan zu. Wir vereinbaren für morgen einen Termin im Amt, um weiteres zu besprechen.

Persönliche Notiz: Jetzt sind wir in der Familie alle Wahlvorsteher – die Frau in Stuttgart-West, die Tochter in Berlin-Wedding, ich in Stuttgart-Süd.

Dienstag, 21. Mai, 10:05 Uhr
Termin im Statistischen Amt in der Eberhardstraße 39, wo auch das Ausländeramt ist, im 3. Stock. In den Fluren herrscht wuseliges Treiben, alles vollgestellt mit Kisten voller Briefwahlunterlagen. Herr Krampe, der mich gestern Abend angerufen hatte, empfängt mich in seinem Büro überschwänglich und bedankt sich nochmal ausdrücklich, dass ich mich bereit erklärt habe, den Job zu machen.

Er händigt mir diverse Papiere aus (Broschüre mit Infos zum Ablauf, Liste mit Kontaktdaten der anderen Wahlhelfer, Checkliste für das Wahllokal) sowie den Schlüssel für das Vorhängeschloss, mit dem die Wahlurne verschlossen ist.

Nächster Schritt: Ich muss einen Termin vereinbaren mit der Ansprechpartnerin in dem Gebäude, wo sich der Wahlraum befindet. Dort muss ich kontrollieren, ob alles okay ist, ob die Wahlurne, die Wahlkabinen, die Hinweisschilder, die Stimmzettel usw. bereit stehen.

Dienstag, 21. Mai, 16:05 Uhr
Ortstermin in Stuttgart-Süd bei der Evangelischen Kirchengemeinde Heslach, Böblingerstraße 169. Bihlplatz. Deep deep South. Ich öffne eine Tür, Kindergruppe. Wo denn das Gemeindebüro ist? Nächster Gang, rechts. Ich öffne die nächste Tür. Eine Gruppe von sieben Damen 70+ sitzen um einen großen Tisch, darauf Wollknäuel. Alle stricken und reden.

Ich erkläre mich, mein Auftritt löst Heiterkeit aus. Die Wahl und ich werden Tagesgespräch. Ich sehe die grauen Urnen-Tonnen an der Wand stehen, daneben die zusammengeklappten Plastikplatten, Sichtschutz für die Wahlkabinen. Es sind zwei Urnen, die ich mit dem Schlüssel öffne.

Ich checke die darin liegenden Pappkartons. Farbige Umschläge, Stimmzettel, drei große Pappkoffer mit den ganzen Utensilien: Klebestreifen, Stifte, Aushangzettel, Schilder, Gesetze. Scheint alles da zu sein. Kurzes Gespräch mit der Verantwortlichen von der Gemeinde, die mir versichert, dass am Sonntag um 7 Uhr jemand da ist, um mir aufzuschließen. Wir müssen dann noch Tische und Stühle rücken, um die Wahlhandlung in geordnete Bahnen zu lenken.

Samstag 25. Mai 9 Uhr
Schulung der Wahlvorstände im Großen Sitzungssaal des Rathauses. Etwa 300 Leute sind da. Am Eingang erhalte ich Unterlagen: Ordner mit dem Wählerverzeichnis, Formulare für die Schnellmeldungen und Ergebnisprotokolle, Liste mit Leuten, die doch nicht wählen dürfen usw. Außerdem schenken sie uns einen Pin zum Anstecken mit Bundesadler. Aufschrift für Frauen: Wahlhelferin. Aufschrift für Männer: Wahlhelfer.

Der Vortrag macht deutlich: Die Wahlhandlung ist kompliziert. Nicht alle dürfen an allen drei Wahlen teilnehmen. Du bist Deutscher, unter 18 Jahre alt? Dann darfst du Kommunal- und Regionalwahl, EU-Wahl nicht. Du bist Unionsbürger über 18? Dann darfst du Kommunalwahl. EU-Wahl machst du in deinem Konsulat oder du hast es für hier beantragt.

70.000 in Stuttgart ansässige Unionsbürger wurden über diese Möglichkeit per Brief informiert. Zwei Stunden dauert der Vortrag, es gibt ein paar Fragen zu ungewöhnlichen Fällen. Zum Beispiel besteht der Stimmzettel für die Gemeinderatswahl ja aus mehreren Blättern. Das kann man auseinander reißen. Was passiert, wenn ein Blatt gültig ist und zwei andere Blätter im Umschlag dabei sind, die mit Beleidigungen vollgeschmiert wurden? Dann ist die Stimme insgesamt ungültig.

Der Aufwand zur Durchführung der Wahlen ist jedenfalls enorm: Etwa 3.000 Wahlhelfer werden am Sonntag im Einsatz sein. Am Montag und Dienstag zählen dann 1.500 städtische Mitarbeiter die veränderten Stimmzettel der Kommunalwahl aus. Erst am Dienstagabend wird feststehen, wer wirklich im Gemeinderat sitzen wird.

Samstag 25. Mai 13:05 Uhr
Im Auto auf dem Weg nach Karlsruhe mitten in der Pampa bei Pforzheim ruft mich die Ansprechpartnerin für die Bereitstellung der Räume an, aus denen morgen früh ab 8 Uhr Wahllokale werden sollen. Ob denn der Schlüssel noch abgeholt werde, wie in den Jahren zuvor? Ich weiß davon nichts. Unseren Ausflug abzubrechen und zurück nach Stuttgart ist keine Option.

Ich sage, ich sei davon ausgegangen, dass morgen um 7:15 Uhr jemand da sein werde, um uns aufzuschließen. Gut, sie werde das jetzt mit der Wahlvorsteherin des anderen Wahllokals klären, die habe bisher immer den Schlüssel am Tag vorher geholt. Einigermaßen beruhigt realisiere ich nebenbei: In dem Gebäude werden also zwei Wahllokale sein.

Sonntag 26. Mai 7:15 Uhr
Ich treffe am Ort des Geschehens ein. Es ist abgeschlossen, niemand zu sehen, die Straßen leer. Naja, bis 7:30 Uhr haben sie Zeit, ansonsten rufe ich die Hotline beim Statistischen Amt an, die schicken zur Not einen Schlosser. Das kaum zu Ende gedacht, biegt auch schon die andere Wahlvorsteherin um die Ecke, schließt auf, es geht los. Als erstes tragen wir drei Tische aus meinem in ihren Raum, dann schiebe ich Tische und Stühle in die richtige Ordnung. Wir brauchen folgende Stationen in dieser Reihenfolge:

1 Tisch am Eingang. Prüft vorab, ob die Leute hier richtig sind und an welcher Wahl sie teilnehmen dürft. Ausgabe Stimmzettel und Wahlumschläge.

2 Tische für die vier Wahlkabinen: Müssen so angeordnet sein, dass die Wahl geheim ist, also dass man jede Kabine erreichen kann, ohne hinter den anderen entlang laufen zu müssen.

1 Tisch Schriftführer: Die Schriftführerin prüft den Eintrag im Wählerverzeichnis. Bei uns sind das etwa 1.400 namentliche Einträge: Name, Adresse, Geburtsdatum. Jede/r Wähler/in ist nummeriert. Sortiert ist das Verzeichnis nach Straße, Hausnummer, Nachname.

Es wird geprüft, ob du hier wählen darfst, also ob du am richtigen Ort bist oder ob du einen Wahlschein für die Briefwahl erhalten hast. Außerdem an welcher Wahl du teilnehmen darfst. Legitimieren muss man sich mit der Wahlbenachrichtigung oder, wenn diese nicht da ist, mit einem Ausweis. Rote Haken im Verzeichnis erhalten die Einträge, die ihre Stimme abgegeben haben.

2 Wahlurnen: Eine Urne für den Gemeinderat, eine für EU- und Regionalwahl. 

1 Tisch: Auslage und Orga. Wir müssen die entsprechenden Gesetze in gedruckter Form im Wahllokal auslegen. Außerdem brauche ich Platz für das Ausfüllen diverser Protokolle.

Inzwischen ist der Rest der Morgenschicht eingetroffen. Wir sind nun zu dritt. Die Studentin der Chemie ermuntere ich, als Schriftführerin zu fungieren. Die Lehrerin übernimmt den Empfangstisch. Ich werde an den Wahlurnen stehen und deren abgedeckte Einwurfschlitze freigeben, wenn ich nach Prüfung des Wählerverzeichnisses durch die Schriftführerin überzeugt bin, dass diese Wählerin jetzt und hier berechtigt ist, ihre Stimmzettel einzuwerfen.

Wir richten noch die Details her, packen die Umschläge aus, hängen vor der Tür Hinweisschilder auf und kleben jeweils ein Exemplar der Stimmzettel als Aushang an die Wand. Eigentlich kann es jetzt losgehen.

Sonntag 25. Mai 8 Uhr
Wir öffnen die Tür, die ersten Leute sind da. Alle sind entspannt und locker. Es ist sonniges Wetter und daher alle im Freizeitmodus. So wird es die nächsten Stunden weitergehen. Es ist immer was los. Leerlauf gibt es keinen. Sogar kleine Schlangen bilden sich. Highlight: Das Pärchen im Bademantel, weil sie grade vom Schwimmen vorbeischauen. Probleme gibt es keine, nur einige Ältere und des Deutschen nicht ganz  so mächtige wirken durch Zahl und Umfang der Wahlzettel etwas überfordert. Wir helfen im Rahmen unserer Möglichkeiten. 

Sonntag 25. Mai 12:45 Uhr
Schichtwechsel, das Nachmittags-Team trifft ein. Wir besprechen kurz, wer was macht und was es zu beachten gilt. Zum Beispiel das mit den Wahlscheinen. Briefwähler, die es verabsäumt haben, ihren Wahlbrief nun auch wirklich abzuschicken, können damit ins Wahllokal gehen und dort wählen. Dabei müssen sie allerdings ihre zwei Wahlscheine abgeben, einen für Kommunal- und Regionalwahl, den anderen für die EU-Wahl. Diese brauchen wir später unbedingt, um richtig auszuzählen. Ich habe jetzt Pause, gehe erstmal selber wählen und dann was essen.

Sonntag 25. Mai 17:15 Uhr
Ich bin etwa zu früh zurück im Wahllokal, will den anderen helfen. Das ist auch notwendig, denn in den letzten 45 Minuten der Wahl herrscht Hochbetrieb. Es bildet sich eine ordentlich Schlange, wir arbeiten wie am Fließband. Immer wieder will jemand seinen ausgefüllten Stimmzettel einfach einwerfen, nee, sorry, da müssen Sie jetzt am Wählerverzeichnis warten, wir müssen erst prüfen, ob Sie wahlberechtigt sind. Aber alle einsichtig, ruhig, kein Stress.

Sonntag 25 Mai 18:00 Uhr
Wir schließen einmal die Tür und ich erkläre die Wahlhandlung für beendet. Dann Tür wieder auf, Urnen aufschließen und den Inhalt auf die zusammengeschobenen Tische kippen. Wir sind jetzt insgesamt neun Leute. Ein Dreier-Team kümmert sich nur um die Gemeinderatswahl, vier sortieren die beiden anderen Wahlen auseinander und zählen die Umschläge bzw. abgegebenen Wahlzettel.

Die Schriftführerin und ich setzen uns hin und zählen die roten Halen im Wählerverzeichnis. Diese Zahl zusammen mit der Anzahl der Wahlscheine ergeben die Zahl der abgegebenen Stimmen. Wir haben Glück, die Anzahl im Verzeichnis stimmt mit der Zahl der Stimmzettel überein. An der Wahl zum Gemeinderat haben hier heute 565 Bürger*innen teilgenommen, bei EU- und Regionalwahl waren es 542. Die älteste war übrigens Jahrgang 1925.

Jetzt wird die Europawahl ausgezählt. Erst wird alles nach Parteien sortiert und geprüft, ob der Stimmzettel gültig ist, ungültige werden beiseite gelegt zwecks erneuter Prüfung. Das Ergebnis fällt so aus: 

GRÜNE 34,7 %
CDU 13,6 %
SPD 10,6 %
LINKE 8,3 %
FDP 8%
PARTEI 5,3 %
AfD 3,9 %

Während die anderen die Regionalwahl auszählen, fertige ich die erste Schnellmeldung an. Das ist ein Formular mit standardisierten Feldern, in das die ermittelten Zahlen und Ergebnisse eingetragen werden. Dann gehe ich damit vor die Tür, um diese Zahlen per Telefon an die Zentrale in der Eberhardstraße durchzugeben. Ich spreche Kauderwelsch: D6 gleich 47, D7 gleich 18 usw. Auf diesen Zahlen beruhen die Hochrechnungen im Fernsehen.

Dann fülle ich das erste Protokoll aus. Das besteht für jede Wahl aus zwei Teilen: einmal wird die Wahlhandlung dokumentiert und dann die Auszählung. Wann begann es, wer hat geholfen, gab es Störungen, wann endete es usw. Dann trage ich die Ergebnisse ein, lasse alles von den anderen unterschreiben, fertig. 

Jetzt folgt der gleiche Prozess bei der Regionalwahl. Deren Ergebnisse unterscheiden sich von denen oben erheblich.

GRÜNE 38,7
LINKE 14
CDU 12,2
SPD 11,5
FDP 7,6
AfD 4,6
Freie 4,4

Erstmeldung, Protokoll, Stimmzettel bündeln, das wäre erledigt. Es ist 21:30 Uhr und ich schicke einen Teil der Wahlhelfer nach Hause. Das Zählteam der Gemeinderatswahl ist noch lange nicht fertig, weil alles viel komplizierter ist. Alle Umschläge auspacken, wenn mehrer Zettel drin sind, einzelne Zettel zusammenheften.

Dann sortieren nach unveränderten und veränderten Stimmzetteln. Bei letzteren haben die Wähler*innen von ihrem Recht zu kumulieren und/oder zu panaschieren Gebrauch gemacht. Das haben 56 % genutzt.

Wir zählen diese Zettel nicht detailliert aus, sondern sortieren sie nur nach der „Leitliste“, also die Liste, auf der sich die meisten Eintragungen befinden. Die genaue Zahl für die einzelnen Kandidaten wird im Amt am Montag und Dienstag ermittelt. Dazu wird jeder Stimmzettel in eine Datenbank übertragen. Unsere Ergebnisse sind also nur so ungefähr und sehen so aus:

GRÜNE 30 %
CDU 12,5 %
STADTISTEN 9,8 %
SPD 9,25
LINKE 7,2 %
FDP 7,1 %
SÖS 5,5 %
AfD 4 %
JungeListe, Tierschutz, PARTEI je 2 %

Fertig. Wir sind durch. Ich packe die 1.649 Stimmzettel zusammen mit den ganzen Unterlagen in drei große Pappkoffer. Wir räumen noch etwas auf – „Bitte keinen Müll in die Urnen!“ – und werfen den Schlüssel in den Briefkasten.

Sonntag 25. Mai 22:45 Uhr
Ich stehe im Statistischen Amt in der Eberhardstraße und dort nimmt man mir die Pappkoffer ab. Kurze Inhaltsprüfung, nachschauen, ob alle Protokolle von allen unterschrieben sind, Quittierung der Übergabe. Das wars. Ich bin reichlich erledigt.

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3 Comments

  1. says: giano

    Packend formuliert, hab mich teilweise gefühlt, als ob ich selbst Wahlhelfer wäre. Insbesondere der Absatz mit den Tischen hat mich aber völlig mürbe gemacht.

  2. says: Rapet_1893

    Spannender Bericht aus exakt dem Wahllokal, in dem ich gewählt habe. Klasse geschrieben und auch cool zu lesen, wie die Leute in meinem Kiez so ticken 🙂

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