Turn-WM – Scheuen sie sich nicht, im Rhythmus mitzuklatschen.

Wasen – Wehen Wiesbaden – WM. Mehr Coachella/Burning Man Feelings im Neckar Park geht kaum. Und alle drei Top-Veranstaltungen waren am Freitag mit der U11 erreichbar. Wie in: Traumrouten dieser Welt. Die U11. Die Route 66 des kleinen Mannes.

Im Sonderzug nach Cannstatt schon geile Gespräche. Mutti zu Vati: „Spielt der VFR heute?“

Kind zu Mutti: „Mama darf ich ins Bierzelt?“

Mutti: „Ja, wenn du 18 bist“

K1: „Wenn ich 18 bin, hab ich keine Freunde mehr, die das cool finden.“ 

K1 jetzt schon schlauer als M1 und V1 zusammen.

Ich lass den Wasen weg und geh lieber direkt zur Turn-WM. Das Publikum: vor allem Turnkinder und im Weg stehende Mütter. Überhaupt scheint dumm-im-Weg-rumstehen eine der Parade-Disziplinen dieser Weltmeisterschaft zu sein. Und viele-viele-Fotos-von-den-Kindern-machen. Die turnen auf einem XXL-3D-Hashtag #stuttgart2019 rum und lächeln gequält in die Samsungs ihrer Eltern.

Während die halbe Welt auf Doha2019 schaut (der war gut) – geht die andere Hälfte zu Stuttgart2019. Und man weiß ja: Stuttgart + Zahl ist PR-technisch eine Art Erfolgsformel. 

Mit einem doppelten Geige turne ich mich ins Presse-Epizentrum und stehe unverhofft und sehr plötzlich inmitten aufgeregter Interviews. Viele Mikros und Kameras sind auf eine junge Dame gerichtet, die sowas wie die Billie Eilish der Turnerinnen zu sein scheint.

„Wahnsinn. War immer mein Traum. Stimmung gigantisch. Morgen erst mal den Tag abwarten. Aber weiterhin trainieren“ spricht sie ruhig in die Mikrofonpüschel. Holger Badstuber gefällt das.

Team Usbekistan kommt direkt auf mich zugelaufen und biegt dann zum Glück ab. Mein Usbekisch Grundwortschatz ist bissle eingerostet. Neben mir fragt Radio Disneuf einer Sportlerin Löcher in den Bauch.

Ich hätte ja schon auch ein paar Fragen. Die drängendste: Weiß jemand den Unterschied zwischen Turnen und Gymnastik? Gymnastik ist Spandex oder? Und VHS-Mitmachcassette, richtig?

Drinnen in der Halle startet gerade Elisa Hämmerle vom Team Austria. Bitte fragt nicht, in was. Aber laut elektronischer Anzeigetafel hat sie DV 4.80 in der Womens Qualification. Spontan gefällt mir persönlich Team Portugal. Und noch spontaner die Nummer 691.

Aber man darf sich nicht verzetteln. So eine Turn-WM ist Multi- und Mutti-Tasking für ganz Fortgeschrittene: Denn, wenn ich das richtig seh, finden drei oder vier Sportarten gleichzeitig statt.

Dann ist meine persönliche Favoritin an der Reihe: Filipa_Martins_official. 25K Abonnenten sagt Insta. Difficulty 4.600, Execution 8.933, Total 13.533 sagt dagegen die Anzeigetafel.

Dann bereitet das Team Austria mit Regenschirm und Schaumstoffklotz den Barren oder ne das ist n Reck selbst auf den Wettbewerb vor. Bin gespannt ob der Keeper von Wehen Wiesbaden (Name gerade entfallen) sein Tornetz gleich auch selber knüpft. 

Von der Hallendecke dröhnt dramatische Musik – laut Shazam pumpt (!!) da Robin Schulz feat. James Blunt mit dem Hit „OK“ aus den Lautsprechern. Und ein Kamera-Roboter fährt mir schier (!) über die Füße. Ich freu mich, dass mir das schöne Wort „schier“ einfällt. Gold für Geiger.

Der Hallensprecher legt einen Aufguss nach: „Scheuen sie sich nicht davor, im Rhythmus mitzuklatschen.“ Herbstmärchen in der Schleyerhalle. „Mag jemand ne halbe Banane?“  – auch das Publikum hinter mir ist schon in bester WM-Laune.

„And we wanna dance together. Come on Stuttgart. Wo sind die Spielverderber? Come on Stuttgart. Ihr kennt alle den Move. It‘s fun to stay in the YMCA“. Gegen den Turnkollegen verliert Stadion-Lautsprecher Holger Laser von nebenan an diesem Abend sein Heimspiel ebenfalls mit 1:2.

Doch Ruhe bitte. Denn Filipa turnt Boden. Langsam verstehe ich das Prinzip. Wie bei den Bundesjugendspielen muss jeder alles machen. Egal, ob dir Weitsprung liegt oder nicht. Filipa liegt Bodenturnen.

Begeistert lassen sich schwäbische Turnmädchen Turnschläppchen von ihr signieren. Als ich ihr meinen Herrenschnürschuh hinhalte, lächelt sie und schlägt ein Rad rückwärts. Alles an diesem letzten Satz war gelogen. (Bitte wähle alle Bilder aus, die keine Ampel zeigen.)

Vielleicht hat sie mir aber auch nur den Kopf total verdreht. Oder es ist die schlechte Schleyerhallenluft. Wäre gut, wenn mal jemand ein Fenster der Turnhalle aufmachen könnte. 

In der Dekompressionskammer Pressecenter kann ich kurz Luft und ein schönes Journalisten-Zitat aufschnappen: „Also ich mag die Chinesen“. In der Gymnastikszene ist die Welt also noch in Ordnung. Oder wieder.

Die Pressemenschen von der STZ schwärmen unterdessen von Simone Biles und ihrem spektakulären Doppelsalto rückwärts mit drei Schrauben, der ihren Namen trägt. Und auch Emelie Petz aus Backnang kreierte wohl am Stufenbarren einen neuen Abgang, den „Petz“.

Den mache ich dann auch, den Petz. Einen Abgang nach Maß. Ab nach nebenan zum VfR ins Stadion – wo immer nur eine Sportart gleichzeitig stattfindet. Wenn auch keine erfolgreiche an diesem Abend. Wo sind die Spielverderber? Die sind mittlerweile wieder daheim in Wiesbaden.

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