Roll das Fass rein: Deichkind in der Schleyerhalle

Bei der Macht von Grayskull: Skeletor hat gestern Abend auch bei Deichkind mitgespielt. Foto: Ronny die Linse Schönebaum

Eigentlich sollten wir erwachsen werden: Deichkind sind für den deutschen Pop so etwas wie die Zeitschrift Neon für den hiesigen Zeitungsmarkt. Mehr Lebensgefühl als Anspruch. Freundliche Ex-Rapper und Bühnen-Casper, die grell geschminkte Fluchtmöglichkeiten aus dem Alltag bieten. Für Bescheidwisser sind Deichkind die Lana del Rey der deutschen Popmusik, der durchschnittliche Berufsjugendliche feiert sie dagegen ab. Kessel.tv versucht sich an einer Erklärung.

1. Bescheidwisser vs. Deichkind

Early Adopter, Twitterer und sonstige Bescheidwisser finden Deichkind doof. Meine Freunde sind alle cooler als ich und haben mich gestern ausgelacht, als ich gesagt habe: „Mach ich Feierabend, geh ich Deichkind.“ Du bist zu alt, haben die einen gesagt (stimmt leider), die sind doch lame, haben die anderen gemeint (stimmt nicht).

Klar sind Deichkind musikalisch mehr als bescheiden und das noch mehr seit Produzent Sebastian Hackert vor drei Jahren gestorben ist. Das neue Album ist streckenweise wirklich schlimm und Textzeilen wie „Die Alte hat genervt, gib Likör. / Den ganzen Tag genervt, ey ich schwör“ (Roll das Fass rein) sind intellektuell vielleicht nicht so herausfordernd wie die superschlauen Tweets eines extraschlauen Stuttgarter Internet-Heinis.

Und es wurde Licht an einem Mittwoch in Bad Cannstatt: Deichkindle live

Deichkind wollen aber tatsächlich nur spielen, sie sind zum Glück kilometerweit weg davon, sich selbst ernstzunehmen. Für einen Mittwochabend in Stuttgart war das Konzert die beste Unterhaltungs-Option, das Publikum war nicht mal halb so schlimm, wie alle im Vorfeld getan haben. Ich kann das beurteilen, denn ich bin „For you for Ort“, schau mir auch Brandenburger Fußvolk gerne beim Feiern an und bin dabei vielleicht mehr Schlecker, als mir lieb ist.

Vielleicht ist das aber auch genau der Punkt: Deichkind wollen nicht mehr als unterhalten und liefern einen ausgezeichneten Vorwand, bereits im Büro den ersten Wodka Redbull zu trinken. Deichkind sind Musik gewordene Discoschorle, das brauch ich manchmal.

Mein Bruder sagt immer, ich müsste langsam mal ernst machen, erwachsen werden, Baum pflanzen, Haus kaufen und so Zeugs. Das will ich aber gar nicht. Lieber will ich in der Schleyerhalle ein unfassbares Varieté aus Gummibooten, Riesenfässern, Disco-Solarien und anderen interessanten Show-Elementen anschauen, dabei drei schlechte Plastikbier trinken und meinen Becherpfand für Viva con Aqua spenden.

2. Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

Allein die Tatsache, dass Deichkind Ferris MC wieder einen Sinn im Leben gegeben haben, finde ich unterstützenswert. Hab mir um den einen Teil der Freaks Association Bremen immer ein bisschen Sorgen gemacht nach „Rolle für HipHop“ und „Im Zeichen des Freaks“. Bei Deichkind den Kasper spielen ist besser als in Castingshows in der Jury dummes Zeug wie Thomas D zu faseln. In der Zugabe rappte Ferris gestern ein paar Strophen seiner Rolle mit HipHop, da ist mir fast eine Träne die Wange heruntergekullert, remember 0711Club 1998, weisch. Was macht eigentlich Afrob?

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3. Musik ist nicht alles

Der zentrale Vorwurf an Deichkind ist bekannt, die Musik ist Scheiße, voll nicht neu, nach „Aufstand im Schlaraffenland“ haben die sich nicht weiterentwickelt undsoweiter. Das stimmt bestimmt, „Leider geil“ ist eigentlich ein leider ziemlich dünner Song. Der Witz dahinter ist aber wiederum überraschenderweise lustig, weil nicht viele deutsche Künstler den Mut haben, auch mal witzig zu sein und dabei dann nicht gleich wie die Atzen klingen müssen.

Gummiboote sind natürlich auch nicht neu, hat man schon beim legendären Deichkind-Auftritt im Rocker erleben dürfen, das führt aber zu einem weiteren Deichkind-Pluspunkt: Vom Schocken über Rocker übers Theaterhaus in die Schleyerhalle ist eine erstaunliche Entwicklung. RTL Eventkino. Pro7 Blockbuster. Ein Happening. Bist du heute Happening, hast du es geschafft (file under Paule). Kann man diskutieren ob man dafür Respekt zollt oder nicht. Ich zumindest geh in die Knie und mach nicht auf supercool.

Auch wenn die Schleyerhalle gestern nicht mal halbvoll war und Deichkind mittlerweile mehr Techno-Kleinkunst als Musik sind: Das war gestern Abend schlicht eine ganz sichere Bank in Sachen Zeit sinnvoll tot schlagen. Wenn ein komplettes Publikum auf Kommando auf die Knie geht und sich dann der gemeinsamen Eskalation hingibt, dann ist das zwar schon wieder nicht neu – mich beeindruckt es aber immer noch.

Bin aber auch wie gesagt mental manchmal mehr Schlecker als DM, daher steh ich auch auf riesige Fässer, die zum passenden Lied durch die Halle wabern, gesteuert von ein paar norddeutschen Techno-Quatschköpfen, getragen von einem Publikum, das heute bestimmt wieder ganz brav im Büro oder der Vorlesung oder wo auch immer sitzt. Außerdem hätte ich gerne so ein Disco-Solarium für mein Wohnzimmer, das blinkt so schön fröhlich.

4. Freikarten

Nach dieser gebrochenen Lanze für Deichkind noch ein kurzer Exkurs als Abbinder: Stuttgarter Konzertveranstalter wie die Konzertagentur C², die gestern Abend für die gute Laune verantwortlich waren, sind nicht nur ausgefuchste Entertainment-Ermöglicher, sie haben auch einen Sinn für Receycling.

Bisher hatte ich mich beim anderen duften Stuttgarter Konzertveranstalter  MusicCircus immer erschrocken, wenn ich Freikarten geschnorrt hatte, weil man bei dieser anbetungswürdigen Firma immer fancy Restkarten von obskuren Melodic-Rock-Konzerten bekommt statt der Original-Konzertkarten. Zuck ich jedes Mal zusammen, weil ich denke, ich muss jetzt zwei Stunden Dream Theater statt Mogwai gucken.

Bei Deichkind gestern haben C² als Freikarten Tickets von Die happy rausgegeben. Da ist es mir dann doch auch kurz eiskalt den Rücken hinunter gelaufen.

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31 Comments

  1. says: whatever

    die waren ausserdem noch mal in der Röhre. Und letztes Mal vom Rocker aus in der Schleyerhalle. Dieses Mal wurde das Konzert von Radio Energy gesponsert. Das hat mir Angst gemacht!

    Hater gibt`s immer, aber so eine Deichkindshow ist einfach immer ein Erlebnis. Man sollte es aber einfach nicht mit den früheren Shows vergleichen, trotzdem war`s einfach wieder mal lustig, unterhaltend und erstaunlich was man sich für eine scheisse einfallen lassen kann! 🙂

  2. @ Thorsten und Martin: Atzen klingen wie ein Set vom Wohni im Transit nach dem 14. Schnaps, wenn er mit dem Handtuch um sich schlägt, Deichkind haben sich einen Restanspruch in Sachen Humor bewahrt. Ist halt nicht die Musik von Ditschis mit einem Restanspruch an Musik.

  3. says: franzi

    Deichkind sind Musik gewordene Discoschorle, das brauch ich manchmal -> you made my day 😀
    und ja genau, das braucht man ab und zu!!!!!
    mist, hätte doch hin gehen sollen…

  4. says: Glückskind

    Haha hab noch gehört wie jemand an der AK gefragt hat ob das wirklich die richtigen tickets sind und hab erst hinterher draufgeschaut:)super konzert und bester bericht!

  5. says: whatever

    wie heisst da eine Songzeile?
    Die Musik scheisse aber die Shows sind geil!?

    Atzen und Deichkind haben soviel miteinander zu tun wie ein fully und ein fixi! Gut aber wie gesagt, Geschmackssache! 😉

  6. says: franz

    ich war da letztes jahr und denke dass das alles weit entfernt ist von sowas wie „deichkindshow ist immer ein erlebnis“. kenn den wohni nicht aber seine show nach 14 kurzen ist bestimmt lustiger. die jungs machen geld, mehr nicht.

    deichkind, atzen, turntablerocker alles das gleiche.

  7. says: Elli

    vielen Dank für Bericht und Kommentar! Deichkindkonzerte sind definitiv nix für ichbinzucoolzumtanzen Clubrumsteher, aber auch keine reine Sauf und Grölband. Einfach mal vorurteilsfrei in eine CD reinhören….

  8. says: vanDamme

    Ingmar, ich rechne fest mit einem Aussie-Live-Artikel zu Panik-Udo nächste Woche in der Schleyerhalle!
    Da bist du dann endlich auch mal wieder der Jüngste im Publikum 😉

  9. VanDamme, ich will tatsächlich zu Udo, der will ganz bescheiden die größte Show an den Start bringen, die ein deutscher Künstler je gewuppt hat. War 2008 in der Porsche-Arena, das war schon sehr geil mit funky SWR3-Publikum.

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