Inner City Blues

Neulich bei einer Sitzung im Rathaus:

– Was könnte man tun, damit es in dieser Stadt nicht wieder zu Randale kommt?

– Um Ausschreitungen zu verhindern, sollten wir die situative Eskalationsdynamik vor dem Hintergrund der konfrontativen und soziologischen Verhältnisse anschauen.

– Ja. Oder wir machet a Feschtle.

And Feschtle it was. S’Genußplätzle auf dem kleinen Schlossplatz. Die Antwort auf alles ist also gar nicht 42. Sondern Flammkuchen mit Lachs und Kessler-Sekt für 6,90 plus Pfand.

Dabei hätte es ja vielleicht geholfen, sich die Problemzonen dieser Stadt einmal genauer anzuschauen. Eine Locationbegehung dort, wo Konflikte entstehen oder zumindest sehr spürbar werden.

Denn mitten in der Stadt findet nicht nur Randale statt, sondern auch ihre Vor- und ihre Endstufe: Tristesse, Langeweile, Frustration. Und ganz schön viel Tote Hose und sterbender Handel. Ein Spaziergang über die Königstrasse und ihre Nebenstrassen ist im Sommer 2021 kein Vergnügen. Auch wenn uns das Stadt- und das Handelsmarketing genau das Gegenteil verkaufen wollen.

Wenn man Handyhüllenverkaufsstände vom Wasen auf den Schillerplatz transplantiert, ist das für den fliegenden oder fahrenden Händler vielleicht das Mindestmaß an Coronahilfe – aber ist das für die Stadt und die Menschen, die dort leben oder zum Leben hingehen auch ein Zugewinn?

Genau wie die Bierbänke, auf denen Freizeitalkoholiker schon ab 11 Uhr Weißweinschorle trinken. Ungeächtet, denn das Ganze nennt sich Weindorf. Auch wenn es nur aus einer traurigen Laube, 10 Menschen im Ruhestand und einer SWR4 Moderation besteht.

Es wirkt, als probiere man, der Innenstadt Leben einzuhauchen. Dabei ist der Atem eiskalt. Und damit gut sichtbar. Was die Depression nicht unbedingt kleiner macht.

An anderer Stelle bekommt das Rathaus endlich fließend Wasser, einen Frank-Nopper-Platz und das Volk einen Trinkbrunnen. Mit Wasser statt Wein. Und der Handel gibt sich die Klinke in die Hand. Esprit geht und die Telekom kommt. Das klingt schon auf dem Papier nach dem Gegenteil von Win-Win.

Der unbeholfenste Versuch von allen nennt sich S’Genussplätzle und findet künftig donnerstags bis samstags auf dem Kleinen Schlossplatz statt. Eine Art Sommerfest light. Wenn gar nix mehr hilft, hilft eine Veranstaltung mit Dresscode weiße Jeans.

Die kreative Idee: wir laden die üblichen Verdächtigen (List, Wilhelmer & Co) ein, um die verdächtigen Übrigen fernzuhalten. Ich bin weder Städteplaner noch Jugendforscher. Aber wenn da mal nicht die Bierflaschen in die andere Richtung fliegen?

Wenn sich auf der einen Seite Frust breit macht und auf der anderen Seite die Halbhöhen-Society. Mit ihren Zeltchen und Häppchen. Kokain/Aperol schlägt Redbull/Billigwodka. Und rich kids vertreiben poor Kids. Endlich mal die Rechnung MIT dem Wirt gemacht. Und gehofft, dass sich alle dran halten.

Wenn die Septembersonne dann über dem Schlossplatz untergeht und die Roségläser instatauglich reingehalten werden, sorgt das sicher für tourismustaugliche Bilder – für weniger Wut sorgt es eher nicht.

Im Sommer 2021 ist diese Stadt ein seltsame Mischung aus Abriss, Baustelle, Leerstand. Was neueröffnet wird, ist Kette & Kalkül, Franchise & Fressen. Genauso hilflos wie das Bemühen der Stadt um gute Laune, wirkt auch das Bemühen des Handels um Kundschaft.

Wenn es nach denen geht, dann braucht der Mensch in diesen Zeiten Currywurst und Schnäppchendeals. Und ich dachte, wir brauchen Berührung und Nähe. Und ein bisschen Wärme in dem Krisengebiet um den Bauchnabel. Liebe, die von echten Herzen kommt. Und nicht von einer Cupcake-Kette mit Kreidestift auf ein Schaufenster geschrieben wurde.

Das alles könnte man als schöpferische Erneuerung verstehen. Wenn man dazu neigt, den To-Go-Becher immer als halbvoll anzusehen. Ganze Häuserblöcke fehlen in der Innenstadt gerade, wie Backenzähne. Wer Stuttgart kennt, der befüchtet zu recht, dass dort Block Block ersetzen wird. Kette Kette und Franchise Franchise. Dass dort zwar Neues entsteht, aber eben nicht Gutes.

Es ist das mulmige Gefühl, dass diese Stadt aus Corona vielleicht gar keine Lektion gelernt hat. Außer, wieviel 1 Meter 50 in Absperrband ist. Und dass dort weder geschöpft noch erneuert wird – sondern lediglich ersetzt.

Am sichtbarsten wird das alles wie gesagt auf der Königstraße. Die man versucht, wie eine Schokobanane mit einer viel zu klebrigen, fetthaltigen Masse zu überziehen, damit man die Banane nicht mehr rausschmeckt.

Und trotzdem merkt dort jeder, dass es sich irgendwie falsch anfühlt, dass der Gegenentwurf zu der allgemeinen Ausgelaugheit und dem Allesgekaufthaben jetzt noch mehr Fressen und noch mehr Konsum sein soll. Und eben nicht mehr Seele, mehr Kultur, mehr Stadtleben.

GLG aus der Postkarten- und Bilderbuchstadt Stuttgart
Die Mutter aller Deeskalationsstrategien
Oder in Zukunft eben mit Drohnenüberwachung
Liebe ist, wenn es #cupcakeliebe ist. Oder #burgerliebe.
Bei „sozial“ hatte sie mich.
Bei „nie wieder“ hatte er mich
Ist das nicht diese Lucas-App von dem Udo von den Galaktischen 4 mit ihrem Hit „Sie da“?
Yup. Genau der.
Gespanntbleiben und dann wieder entspannen, weil doch nix Spannendes kommt – die progressive Muskelrelaxation der Stuttgarter
Gerhard Schröder gefällt das
Das mit Abstand Traurigste, was ich an diesem Tag gesehen habe. Wenn irgendein Film-Aka-Studi gerade einen Diplom-Zombiefilm dreht: Königsbaupassagen is the place to go.
Und was es noch ein bisschen trauriger macht: selbst das ist eine Kette. „DER SPEZIALIST FÜR MODERNE KINDERUNTERHALTUNG IN SHOPPING CENTERN. WIR MACHEN EINKAUFEN ZU EINEM ERLEBNIS FÜR GROSS UND KLEIN UND BELEBEN MIT UNSEREM POPUP-STORES IHR CENTER.“
Was fehlt: ein Piktogramm mit durchgestrichenen 3/4 Caprihosen
Hier kommt das erste Mal ein bisschen Stimmung auf. Wie nennt man eigentlich Menschen, die kein Fleisch essen, aber Reptil schon?

Wenn noch jemand einen Künstlernamen für seinen Poetry Slam Auftritt im JH Mitte braucht: feel free to take Pinnwand Latino and rock the house
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7 Comments

  1. says: Dag

    Sehr treffender Text. Ich war zwar schon länger nicht mehr in Stuttgart, kann es mir aber sehr gut vorstellen. Bei praktisch jedem Satz denke ich mir, mit leichten Nuancen beschreibt er sehr anschaulich, wie auch meine Stadt (die auch vor nicht allzu langer Zeit bundesweit mit Randale Jugendlicher die Republik erschreckte) in den Orkus strudelt. Und richtig schlimm packt mich, dass es so keiner wirklich merken will. Man zwar deutlichst wahrnehmen muss, dass es brodelt, aber dann doch lieber nicht so genau hinschaut. Vom eingeschlagenen Weg des vollverblödenden Popup- Hin- und Mitkonsums überhaupt nicht mehr runterkommt. Sich eine Ladung Sand auf den Rathausplatz kippt, Palmentöpfe drauf, Samstagvormittags Yoga am Strand, vorher gehen dort die Hundebesitzer Gassi. Ich möchte – nicht nur dort – dauernd rufen: Ja riecht ihr es denn nicht? Aber nee tun sie nicht, der Schmalzkringel-Laden hat ja grad die erste morgendliche Ladung Designduft abgelassen.
    Wir sind nicht mehr zu retten.

  2. says: Tobsen

    Amen. Sehr viel trauriges passiert momentan. Und der Drang wegzuziehen (zu müssen) wächst (leider)..

    Warum schaffen es andere Städte (ja ich weiß, Berlin vergleiche stinken aber ist halt einfach so) und Stuttgart nicht? Finds einfach nur traurig. Kohle ist ja schließlich da.

  3. says: s'Horschdle

    Der Höhepunkt ist noch lange nicht erreicht.
    Da geht noch was.
    Ich bin schon länger raus.
    Grüße aus der „Provinz“ 😉

  4. says: Jana

    Danke, du sprichst mir so aus der Seele. Seit ich nicht mehr direkt in Stuttgart wohne, bin Ich nicht mehr jeden Tag dort. Durch Corona dann monatelang nicht.
    Vor einigen Wochen habe ich wieder angefangen regelmäßig in Stuttgart einzukaufen, Dinge zu erledigen und dann war da diese Katerstimmung. Vielleicht zu hohe Erwartungen, dachte ich. Hast dich so gefreut. Hast es verklärt.
    Jeder Besuch in der Innenstadt war beklemmender und unbefriedigender. In meiner Innenstadt. So traurig.

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