Erinnerungen: Blättle austragen in Möhringen

Toter Briefkasten, laut Wikipedia „nur dem Absender und dem Empfänger als solcher bekannt und damit vor Entdeckung durch Nichteingeweihte geschützt.“

Quasi täglich komme ich an dieser Bank vorbei. Neulich saß dort ein entrückt-lächelnder junger Mensch mit viel Rasta-Gelöte auf dem Kopf und kiffte! „Hoffentlich fragt der mich jetzt nicht, ob ich mit ihm ein Erdloch rauche“ dachte ich und lächelte nicht-ganz-so-entrückt zurück.

Tage später dann dieses Bild: jemand hat die aktuellen Möbel Hofmeister Prospekte dort „eingeworfen.“ Jemand, der wahrscheinlich dafür bezahlt wird, Blättle auszutragen. Nicht abzulegen.

Weiß gar nicht, ob kiffen und bocklos austragen in einem kausalen Zusammenhang zueinander stehen. Und auch nicht, was all die Blättle-Zusteller im Interweb-Zeitalter so machen. Spam austragen?

Blättle austragen war schon früher eine Top-Einnahmequelle: viel an der frischen Luft. Meistens in der eigenen Hood. Kein Pendeln zwischen Arbeitsplatz und Wohnort. Und fast freie Zeiteinteilung. (mittwochs kommt der Stadtanzeiger, donnerstags s’Wochenblättle.)

Mein Blättle in jungen Jahren war in Urlaubsvertretung immer mal wieder die Sonntag aktuell. Das war gut. Weil mit 50 Mark pro Sonntag gut bezahlt. Und das war schlecht, weil sonntags. Und zwar sonntagfrüh. Bis um 8.30 Uhr musste die Märchensiedlung in Möhringen mit „der siebten Ausgabe ihrer Zeitung“ – so die Verlagswerbung – versorgt sein.

Die verschnürten Pakete mit der druckfrischen Zeitung musste ich morgens am toten Briefkasten Shell-Tankstelle holen und in die Riesen-Satteltaschen eines Herrenfahrrads packen (Rixe, später Herkules, dann sogar Motobécane).

Obenauf auf dem Packerl lag immer ein Nadeldruckerausdruck mit den Änderungen:

Haug, Aladinweg – 3 Wochen abbestellt,

Eisenmann, Rapunzelweg – Abo gekündigt,

Schäffler, Koboldweg – bekommen 2 Wochen lang ein Probeabo.

Nach der Liste ist man aber nie gegangen, sondern nur nach den kleinen Aufklebern auf dem Briefkasten. Kleiner gelber STZ oder kleiner blauer STN Klebepunkt hieß: Sonntag aktuell mit rein.

Mit diesem Austräger möchte man nicht tauschen: voll der Gewissenskonflikt, ob die Sonntag aktuell nun ne Wochenzeitung ist, oder nicht. Ärger vorpogrammiert.

Hatte selber mal vor ein paar Jahren ein 3-wöchiges Probeabo der Stuttgarter Zeitung. Und dafür einen gelben Bepper auf dem Briefkasten, an dem sich der Austrägerkollege wohl orientiert hat. Also hat er mir 18 Monate lang die Stuttgarter Zeitung umsonst eingeworfen. Bis es jemand gemerkt hat. Wollte dann aber net beim Verlag anrufen und mich beschweren, warum nach anderthalb Jahren mein Probeabo so abrupt endet.

Sonntag aktuell austragen hieß früher meistens direkt von der Disse auf’s Rad. Seinerzeit haben Menschen ja noch Zeitungen gelesen und Diskotheken irgendwann geschlossen. Heutzutage könnten junge Menschen diesen Job gut zwischen Climax und Toy einschieben:

„Ich werf n paar Pillen ein.“

„Und ich n paar Zeitungen.“

„Gut, wir sehen uns zum Mittagessen hier auf der Tanzfläche.“

Erschwerend zum frühen Aufstehen kamen im Wechsel Schnee und Eis und Regen und Kälte und Kater. Die Hauptausträger, die das Ganze Montag bis Samstag gemacht haben, hab ich nie beneidet.

Die SOA 2010. Dem RAM aus dem Briefkasten gefischt, heimlich das Sudoku gelöst und wieder eingeworfen. 

Manche Menschen standen schon ab 6.30 Uhr am Gartentörle, um auf die Zeitung zu warten. Wahrscheinlich wegen Bekanntschaftsanzeigen und Hägar-Comic.

Highlight auf der Sonntag aktuell Austragetour durch die Märchensiedlung: Walter Kelsch, Sindbadweg, damals VfB Spieler. Ihm sonntags eine Zeitung einwerfen, in der er nachlesen konnte, dass er am Samstag gegen Fortuna Düsseldorf die Buden zum eins- und zwei-zu-null gemacht hatte, war noch besser als die 50 Mark.

Die Kehrseite des Jobs war, dass der Verlag bei Beschwerden unsere Telefonnummer zuhause weitergab. Hab mich manchmal nach dem Austragen sofort wieder ins Bett gelegt und wurde geweckt, weil Friedemanns im Rübezahlweg keine Zeitung hatten.

Könnte da am sonntagfrüh eigentlich mal vorbeifahren – und denen ein Päckchen Hofmeister-Prospekte in den Vorgarten werfen.

Nachtrag zum Austragen: gestern dann plötzlich dieses Bild auf meiner Bank. Jemand hat ne leere Palette 3-Ährenbrot da gelassen. Bestimmt der Kiffer. Hatte wohl die Munchies.

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23 Comments

  1. says: martin

    hahaha killer! blättle austragen for the l.o.v.e!

    besser kann man den job nicht beschreiben

    „Blättle austragen war schon früher eine Top-Einnahmequelle: viel an der frischen Luft. Meistens in der eigenen Hood. Kein Pendeln zwischen Arbeitsplatz und Wohnort. Und fast freie Zeiteinteilung. (mittwochs kommt der Stadtanzeiger, donnerstags s’Wochenblättle.)“

  2. says: martin

    sonntag aktuell wollte ich übrigens vor der ausgehzeit auch immer machen, weil damals mega bezahlt. aber da musstest ja fast ein assessment center durchlaufen um den job zu bekommen

  3. says: Philthy

    hab jahrelang bild am sonntag ausgetragen, auch ne top einnahmequelle. 50 mark in einer stunde, und an weihnachten gabs noch lecker weihnachtsgeld (ab und zu auch zigaretten :D) von den kunden. winter hat aber immer gestunken, schwere satteltasche und vereiste bordsteine vertragen sich nicht.

  4. says: dozy

    Ah.. schöne Zeiten! Das berühmte Crailsheimer Stadtblatt! Hab ich jeden Donnerstag in meinem Dorf ausgetragen. Im Nachhinein betrachtet hab ich viel zu wenig Asche dafür bekommen, aber in dem Alter hat mir das gefühlten Reichtum ermöglicht.

  5. says: Dome

    ich hatte das Wochenblatt… Sau schwer die Dinger. Das gute war das ich extrem viel Hochhäuser hatte wo ich die kompletten Pakete nur im Hauseingang ablegen musste 😀

  6. says: vanDamme

    @ martin: du machst doch Sonntag morgens immer so schöne West-Fotos zum Sonnenaufgang und mit Cosimo und so! Und wenn du eh schon (oder besser: noch!) wach bist, würde es sich doch anbieten, mal übers Austragen der Sonntag Aktuell direkt nach dem Auflegen nachzudenken … ideal zum Runterkommen, oder? 😉

  7. says: Thorsten W.

    Ich hab damals mit Bild am Sonntag als Einstiegsdroge angefangen – war gut, weil die Leute bar bezahlt und Trinkgeld gegeben haben. Dann hab ich die harte Tour gemacht: Jeden Tag Tageszeitung, erst nur Südkurier, dann noch den Schwarzwälder Boten mit dazu genommen. Das war echt hart, vor allem im Winter. Besser war’s samstags, nach der Disse direkt zum Austragen und dann ins Bett. Dafür konnte ich mir immer geile Klamotten leisten.

  8. says: martin

    ach die! heutzutage geht man dann mit seinem modeblog einfach mal offline wenn er peinlich wird

    hatte übrigens ne ganz coole „sackkarre“ mit zwei großen fächern. ist nur manchmal umgekippt, aber sonst okay. blättle austragen hat mich sogesehen eigentlich noch ewig verfolgt, noch 2000 hab ich fett flyer im benz verteilt.

  9. Wunderbarer Artikel. So schön und so wahr. Obwohl ich gestehen muss, dass mir das Gemeindeblatt autragen während meiner Konfirmantenzeit gereicht hat.
    Ich habe mir dann doch lieber mit Nachhilfe und Babysitten das Taschengeld aufgebessert. War vor allem im Winter praktisch. Und mal ganz ehrlich, in welchen Jobs wird man fürs Fernseh schauen bezahlt und bekommt dazu noch die Knabberschublade gefüllt…

  10. says: Grosser Geiger

    Herrlich. Genau so wars.
    Mein Bruder hat das sehr süffisant auf den Punkt gebracht.
    Alles für die gute alte 50iger.
    Die kostete nämlich DM 1.300 Versicherung im Jahr.
    Wegen der Blättle-Nummer ist man am Samstag ja nicht wirklich früher
    ins Bett gegangen. Morgens holte einen der Wecker (kein iPhone)aus
    dem totalen Tiefschlaf. Manchmal wußte ich nicht, ob ich träume aufstehen zu müssen oder ob ich schon ausgetragen habe und weiterschlafen kann …

    Es gibt ein geheimes Erlebnis, von dem er nichts weiß.

    HaHaHa.

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