Drei Wochen Bosch, drei Wochen Frankreich

IMG_9181

(Idylle) Symbolbild „Libelle auf Zeh gelandet“ – hab leider kein Foto von mir beim Bosch.

Jetzt ist wieder großes Ferienfestival bei kessel,tv. Jeden Tag ein anderer Vorschlag, was man machen kann, wenn einen die Eltern zuhause vergessen / nicht zum Plattensee mit den Kumpels gelassen / verstossen haben. Was macht man eigentlich 2013 so in den Ferien? Außer Instagramm? Ahhh große Ferien, höre ich die Kids sagen, endlich mal in Ruhe mit meinen facebook-Freunden online abhängen.

Chillt man eigentlich heute noch, liebe Jugendliche? Eure Vorfahren hatten jedenfalls in den sechs Wochen Sommerferien immer ein straffes Programm. Haut- und Kontostraffend. Jetzt erzählt der Vatter euch mal was aus’m Krieg. Früher hieß sechs Wochen frei nämlich: Drei Wochen Bosch, drei Wochen Frankreich. Oder 4:2. Aber niemals 5:1 oder 2:4.

Ganz früher hieß es aber erstmal: alle Kinder ins Waldheim, außer Du. Du nicht. Du war damals ich. Und ich durfte nicht, dachte ich. Heute weiß ich: ich musste nicht. Hab die anderen Kinder immer bissle beneidet, dass die so gut verräumt waren und mit ganz vielen anderen wochenlang im Waldheim poofen durften. (Feldbett) (Spüldienst) (Filzlaus) (Lageressen). Ich musste solange auf der Wendeplatte alleine kicken. Beziehungsweise mit den anderen, die nicht durften.

Heute ist mir klar: die anderen mussten ins Waldheim. Zum Teil bestimmt zur Strafe. Wegen schlechten Noten und so. Meine waren immer so okay. Viel drei bis vier, wenig Fünfer und wenn, dann halt mit nem schönen Sport- oder Reli-Zweier sauber ausgeglichen. Maximale Effizienz und Ressourcen schonen würden das heute die Gemeinschaftskundelehrer nennen. Aber Gemeinschaftskunde gibt’s glaub nimmer – oder heißt bestimmt GEG (Geschellschafliche Entwicklungsgeschichte) oder so.

Im Waldheim mussten die anderen auf jeden Fall den ganzen Tag „Danke für diesen guten Morgen singen“. Auch wenn schon Abend war. Erst gegen 18:00 Uhr waren sie mit allen Strophen durch. Oft, weil man sich im Kanon vergaloppiert hat und dann wieder alles von vorne los ging. Stell dir vor, es ist viertel vor 6 und der kleine Dicke mit der 6-Dioptrinbrille neben dir verhaspelt sich beim letzten Vers“ Danke für meinen Fahrdienstleiter…“

Ins Waldheim müssen mussten die meisten glaub, weil ihre Eltern christlich waren. Die kleinen Christen haben heute die zweite Frau und die erste Wohnung noch gar nicht abbezahlt und sitzen für diese Lebenshypothek in Führungspositionen. Die anderen wurden Straßenfußballer – oder zumindest Streetworker.

Nachdem die Waldheim-Phase dann rum war, nutzen die Christen die großen Ferien zum Reli-Lernen und die anderen zum ferienjobben. Ferienjobs gab’s erstaunlicherweise auf dem Arbeitsamt. Viele waren beim Bosch und man bekam 12 Mark die Stunde. Dafür musste man dann in Leinfelden-Echterdingen „Anker entgraten“. Weiß bis heute nicht, was ich da eigentlich gemacht hab. Aber ich hab’s gewissenhaft gemacht: zuverlässig bocklos und schludrig.

Halt dei Gosch, I schaff beim Bosch und zwar im Schichtbetrieb. Entweder von 6 bis 14 oder von 14 bis 22 Uhr. Im Frühdienst haben relativ viele der regulären Arbeiter Likör gefrühstückt. Morgens um 6 ist die Welt noch die Ordnung und ein Jägi für manche das bessere Müsli. Beim Rausgehen wurden die Taschen kontrolliert. Damit man keinen Anker klaut. Also nicht Anker-Anker. Das waren so Antriebsteile und die Ingenieure unter den KTV-Lesern wissen wahrscheinlich, was gemeint ist und dass nur Vollhörste sowas klauen.

Anderer Ferienjob war dann beim Kohlhammerverlag in Vaihingen. Da musste ich Anker entgraten Bücher verpacken. 12 Mark die Stunde. Wenn man ein Tag gearbeitet hatte, hatte man 96 Mark und konnte in Urlaub fahren. Steuern gab’s damals noch nicht. Nee, Quatsch, man musste natürlich wochenlang schuften und malochen und hatte dann aber Geld für Kippen und Gemischtbenzin. Genug, um mit beidem irgendwohin zu fahren.

Im Kohlhammer Verlag gab’s den mysteriösen 1. Stock. Der war für Ferienarbeiter tabu. Dachte erst, dass die da Sexheftchen drucken (Lui, High Society, Playgirl). Aber die haben da Führerscheinformulare gedruckt. Also ohne Foto und Co. nur die grauen Lappen. Kohlhammer war’n Formularverlag und wer gewollt hätte, hätte sich im 1.Stock einen Blanko-Führerschein holen können.

Erstens hatte ich aber schon einen (1b) und zweitens hab ich mich nicht getraut. Wer keine Anker klaut, mopst auch keine Führerscheine. Ich meine aber, mich zu erinnern, dass es keine Sicherheitsmaßnahmen gab, außer „Ihr dürft da nicht hoch!“ Hat aber gereicht.

Im nächsten kessel.tv Ferienbericht erzähl ich euch dann, wie ich bei einem anderen Job Feinkostsalate für Hohmann ausfahren musste. Mit so ’nem ganz ganz ollen Fiat-Transporter ohne Bremsen, von dem man immer liest, dass er auf der A81 gestoppt wurde und fast auseinandergefallen wäre – und dass man 20 Balkan-Flüchtlinge unter dem Beifahrersitz entdeckt hat.

Ich dachte, ich muss für Hohmann nur die Salate kutschieren – aber ich sollte die aktiv verkaufen. Also, dem Mann vom Tengelmann eintrichtern: „Wenn der Nudelsalat Nicoise bei Ihnen so gut läuft, nehmen Sie doch noch den Puztasalat Debrecen dazu“. Hab mich nach einem Tag geweigert und bin ohne Kohle nach Frankreich. Bis heute kann ich Außendienst und Außendienstler nicht leiden.

Mich hat dieses „Reinverkaufen“ immer an den blöden Witz erinnert:

Kommt n Mann zum Bäcker: „Ich hätte gerne 99 Brötle.“

Sagt der Bäcker: „Nehmen Sie doch 100. Dann haben Sie eins mehr.“

Früher musste ich immer an der Stelle schon fürchterlich lachen. Hab erst viel später kapiert, dass der Witz noch nicht zu Ende war, sondern der Mann entgegnet:

„Um Gottes: wer soll denn das alles essen?“

(Sparwitz)

(Sparback)

(Spoiler Alert)

Join the Conversation

20 Comments

  1. says: martin

    du seggl 🙂

    also im waldheim lindental wars immer knaller (bis einschließlich 13). ich war da als überzeugtes nichtchristenkind, wir haben auch nicht gesunden, sondern ziemlich viel tischtennis gespielt und stockbrot gegrillt. wenn wir am 21.8. bei der ping pong disko antreten, sehen wir dann was das gebracht hat.

    (pommesgabel) (w) for (weilimdorf) (westside)

  2. says: Thorsten W.

    Bei uns aufm Land gab’s kein Waldheim. Der Wald war hinterm Haus und wir durften alleine hin. Dafür waren wir mit unserem Pfarrer in Österreich, war aber ein cooler Pfarrer der geraucht hat, eine Freundin hatte und ein Allrad-Auto gefahren ist.

  3. says: jaytext

    den text darf meine kleine nicht lesen. ist dieses jahr zum ersten mal im waldheim und soll bitte noch viele jahre brav hingegen – und gut „verräumt“ sein. ach ja, ich durfte in gmünd alugussteile entgraten, gab nur 10 mark die stunde. statt urlaub in frankreich hab ich mir lieber ein motorrad gekauft

  4. says: VanDamme

    Großartiger Artikel!

    Was haben wir Katholiken-Lindentäler den Evangelen = den Ungläubigen von der anderen Seite des Waldes jedes Jahr aufs Neue mores gelert, als wir ihnen in nächtlichen Sniper-Aktionen mal wieder die Fahne abgenommen haben und sie am nächsten Tag zu Kreuze kriechend und voller Demut um Rückgabe bitten mussten!

    Waldheim forever, bis zu welchem Alter darf man denn dort eigentlich seine Ferien verbringen? Hätte grad voll Böcke!

  5. says: VanDamme

    Aber jedes Jahr zwischen `85 und `91!
    Es hieß: entweder 3 Wochen zur Oma nach Nordstetten bei Horb a. Neckar oder Asi-Action im Camp!
    Haben wir uns am Ende mal gehauen? ;-

  6. says: martin

    yay! ich war von 86 oder 87 bis 90. 91 dann fette erd sprachreise nach england 🙂

    glaub net, hab mich noch nie geschlagen hehe

    eher hast du gegen mich mal im tischtennis verloren hahaha

  7. says: VanDamme

    Haha, damn right!
    Und vergiss net: nie, niemals Angabe mit der roten Seite, immer mit schwarz – rot ist nur zum Schmettern da!

    (Sorry fürs Offtopic: wäre mal Zeit für n 80er Tischtennis-Post!)

  8. says: Whiskydrinker

    Klugschiss: http://de.wikipedia.org/wiki/Anker_%28Elektrotechnik%29

    Aber zum Thema Waldheim: Da haben die Väter im Freudeskreis eigentlich immer gesagt, dass man da hin muss, damit Mutter auch mal ein paar Tage Ruhe hat.
    Wobei wir uns aber durchaus selbst im Viertel zu beschäftigen wussten, Stuttgarter Stadtrand mit Wald und so. Wäre also gar nicht sooo notwendig gewesen.

    Irgendwie ging dann immer ab Tag 4 im Waldheim der Brechdurchfall um. Hatte dann jedesmal die lustige Folge, dass Mutter nicht nur die Kinder wieder daheim hatte, dann sogar richtig Vollzeit, und dazu noch mit dem Sagrotan laufend hinterherwischen dürfte.

    Bis zu Abfahrt in den Urlaub in Freienwoche 3 musste man ja wieder fit sein.

  9. says: Kollege Geiger

    Ha. genau so’n Einphasen-Reihenschlussmotoren-Rotor zur Erregerwicklung hab ich damals entgratet. So n Locken-Dschungelgelöte.
    „Damit Mutter auch mal ein paar Tage Brechdurchfall zuhause hat“ ist eine wahrlich schöne Episode.

  10. says: Ulmerstar

    Okay – ich merke – ich war verwöhnt – erster Tag Ferienbeginn – mein Vater packt zwei Alukisten – also diese Kisten die man eigentlich im Keller stehen hat um tote Dinge zu verstauen – Kleider, Essen, Möbelstücke, Hund, Katze und Maus – dann wurden die auf den Volvo Kombi gepackt – mit Seilen und Spannhaken – die hintere Bank umgeklappt, die Couchkissen drapiert und meinen zwei Brüdern und mir das Bett hinten im Auto eingerichtet. Nach dem obligatorischen Streit meiner Eltern – ging es dann Nachts los – 18 Stunden Fahrt (natürlich wurde im Auo geraucht – und natürlich wurde mir immer schlecht) mit eingeweichten Laugeweckle und Apfelschorle. Ziel: Die Familienwohnung in Südfrankreich, Canet-Plage – gleich bei Perpignan. Jedes jahr! Der Traum meines Vaters. Da waren wir dann – ganze 6 Wochen. In einem Land, dessen Sprache ich nicht kannte. Und in einem Land in dem sie uns Deutschen nicht mochten. Wenn ich schon alleine zum Bäcker musste wurde mir Angst und Bange. Die nicht so nette Backverkäuferin kannte keine Gnade. Wenn ich kein französisch mit ihr spreche, wird sie einen Teufel tun und mich auf gar keinen Fall verstehen. Highlights waren auch nicht die Ausflüge an dem von meinem Vater so geliebten Collioure an dem es sage und schreibe eine Kirche mit einem Leuchtturm gab. Das einzig geile waren die französischen Spielhöllen. 1 Francs und man war – wenn es gut lief – ewig beschäftigt. Jahre später fand ich es dann toll, dass ich in den Ferien arbeiten durfte! – Wow – endlich durfte ich mir das mal von der Seele schreiben 🙂

  11. says: chriznogood

    Awa ERD, ich war in Eastbourne. Mein Roommate hat Ärger bekommen er weil das Lunchpaket fast jeden Tag unter Bett versteckt hat. Und der Hund der Gastfamilie ist gestorben….

  12. says: Herr Cut

    Geil 2013 nochmal aufgleisen. Ich war im Dachswald. Ging es immer mit viel Gesang mit dem Dachswald Express hin.
    Aber mal vorwärts nach 2023.
    auf dem Campingplatz liegen viel (meine auch) Kinder tageweise vor dem Handy. Ich bin froh das zu sehen. Dachte es liegt an uns. Aber auch normale Familien trifft dieses Schicksal.
    Grüße aus Woche 2/3 auch Frankreich

Leave a comment
Leave a comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert