Phänomen pur: Wer sind diese Stuttgarter?

Ich durfte für die aktuelle Ausgabe des re.flect den Plattform-Text beitragen und bin dabei etwas ins poetische abgedriftet. 

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Neulich war ich auf Safari. Ich machte mich auf die Suche nach einer ganz bestimmten Spezies, von der ich schon viel gehört hatte. Immer wieder war die Rede von ihr, in unterschiedlichsten Zusammenhängen wurde sie erwähnt, beschrieben, diskutiert, kritisiert und angefeindet.

Diese Spezies ist nicht beliebt in Stuttgart. Die Rede ist von den „Stuttgartern“.

Über „Die Stuttgarter“ wird oft mit diesem Blick und in diesem Tonfall geredet, mit dem man auch über „Die Schmids“ spricht und damit jenen Teil der Verwandtschaft meint, den man nicht mag, den man aber bei jedem Geburtstag und jeder Beerdigung zwangsläufig trifft und zur Hochzeit einladen muss. Wo man nur „Die Schmids“ sagt und sich mit dem Gegenüber sofort auf ein gemeinsames Augenrollen verständigt.

„Die Stuttgarter“ sind vor allem dafür bekannt, was sie NICHT tun. Oder können. Oder wissen.

  • In einem Club hat ein DJ aufgelegt, der in Berlin schon mal bei einer Vernissage in einem Popup-Store in der Münzstraße die Plattenspieler aufbauen durfte. War nix los. „Die Stuttgarter“ wissen sowas echt NICHT zu schätzen.
  • Die S21-Demonstranten haben schon wieder ihre Montagsdemo gemacht und der geleaste Midsize-SUV stand auf der Theo eine Viertelstunde im Stau. Und „die Stuttgarter“ haben Grün trotzdem NICHT abgewählt.
  • Zur Ausstellung des russischen Performance-Künstlers im als Zwischennutzung besetzten 300qm-Loft kamen am dritten Tag keine drei Leute mehr. Die Stadt hat keinen Pfennig gezahlt. „Die Stuttgarter“ können mit Kunst halt einfach NIX anfangen.

Ich bin also los und habe Ausschau gehalten nach diesen „Stuttgartern“.

Ich bin zum Marienplatz gelaufen und habe Sojalatte trinkende Spanierinnen mit Dutt gesehen, italienische Halbstarke die gegen türkische Käseweiße Fußball spielen, Punks die in der Sonne Cola trinken und Killesbergmütter, die eine halbe Stunde für ein Banane-Sahne-Kardamon-Eis anstehen.

Dann bin ich weiter zum Fluxus gelaufen und habe Abiturienten gesehen, die bei frisch gepresstem Orangensaft Hausaufgaben machen, tätowierte Landstreicher, die mit VioVio-Klamotten Craftbeer aus Neuseeland trinken, zweireihig parkende Kinderwägen und Werber, die nach erfolgreich verlorenem Pitch am Startup-Tisch eine Gärtnerei planen.

Abends bin ich am Hans-im-Glück-Brunnen gelandet und habe Kapuzenpulli tragende Theaterschauspieler gesehen, die mit Highheel-Diven bei Mäxle um die Tischtennisplatte rennen, Flaschensammler mit Leiterwagen, die sich von betrunkenen Investmentbänkern leere Flaschen vom Tisch klauen lassen und DJs, die zur letzten Platte leise Servus sagen.

„Die Stuttgarter“ habe ich dort überall nicht gesehen.

Die habe ich in Berlin gesehen. Sie standen vor dem Berghain in der Schlange und schimpften über Touristen.

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