Halftime: 35 werden und Bilanz ziehen

Unser Beitrag für die aktuelle re.flect Ausgabe Februar / März 2012

Anfang März werde ich, falls bis dahin nichts mehr dazwischen kommt, völlig unerwartet 35. Ich rede mir seit Wochen ein, dass ich mit 35 eine Zwischenbilanz ziehen muss. Mit 30 kam mir so etwas nicht in den Sinn und mit 40 kann es für eine Bestandsaufnahme vielleicht zu spät sein. Jetzt ist Halftime, wie Nas schon auf „Illmatic“ 1994 rappte. Das Internet behauptet, und das weiß bekanntlich alles, da möge der Ansgar noch so viele Kriege ausrufen, bei einem 1977er liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei rund 70 Jahren. Ich prophezeie: 77. So alt werd´ ich. Um genau zu sein, 77 und fünf Monate.

Das ist ein schönes Alter. Kann ich schaffen. Ich mach‘ relativ viel Sport, meine Ernährung ist (bislang) bis auf den regelmässigen Genuss von Döner und TKPs fast das Gelbe vom Ei, mein Cholesterin sowieso ganz weit unten, sagt mein Doc, weiterhin bin ich lediglich ein Gesellschaftsraucher (außer am Wochenende).

Bleibt einzig allein folgendes Problem: Ich kann, nein, ich will maßlos saufen. Wobei das mit Wollen relativ ist. Sobald ich einen Tresen sehe, setzt mein Verstand aus. Als wären Schnapsgläser sekundäre Geschlechtsmerkmale, an denen man dauernd nuckeln will. Oder seinen Kopf reinlegen und darin schütteln. Deswegen wird mir der liebe Herrgott ein paar Jahre abziehen.

Wobei wiederum mein Doktor bei der letztjährigen Vollkontrolle diagnostizierte: „Herr Elbert, ihrer Leber sieht man wirklich nicht an, dass sie viel Alkohol trinken.“ Den Freifahrschein nahm ich gerne an. Seitdem pichel ich noch mehr.  Da mach mir glatt noch mal ein noch Bier auf, obwohl kein Fußball kommt. Gott, ist das kalt draußen. War gerade Kippen holen.

Mutti mag das nicht so. Das mit dem Rauchen und dem Alkohol. Wenn ich meine Eltern besuche, gibt es so eine Art Ritualprovokationsdialog (nein, das Wort gibt es nicht): „Heilige Scheiße, war ich gestern wieder hacke!“ Meine Schwester grinst breit und meine Mutter ruft traditionell entsetzt: „Maddin! Des warsch ned!“ „Nee Mama, hab gerade bisschen übertrieben.“ „Tusch nicht so viel trinken, ge.“ „Nee, tu ich nie.“

Man kann sich meine Mutter so ein bisschen wie die Mutter von Forrest Gump vorstellen (übrigens ein gern eingesetzter, billiger Kalauer all derjenigen, die von meiner Laufobsession wissen: „Lauf Forrest, lauf!“). Mama hat mir einige Weisheiten mit auf den Weg gegeben, nicht ganz die philosophische Pralinenschachtelnummer, sondern praktische Sätze, mit denen ich bislang ziemlich gut durch das Leben gekommen bin. Zum Thema Gesellschaft meinte sie z.B. öfters: „Arschlöcher gibt es überall, das lässt sich nicht vermeiden.“ Sie hat bis heute Recht behalten.

Weiterhin lehrte mich Mutti früh, dass nicht immer alles geil sein kann. „Im Leben kommen immer wieder Dinge auf dich zu, die einem nicht so Spass machen.“ Eine Universalessenz. In allen Bereichen anwendbar. Als DJ z.B. hat man ab und zu so Bauchwehabende, an denen man sich am liebsten daheim hinter oder richtigerweise vor der Flachbrettglotze verbarrikadieren will. Dann fällt dir Mutti ein, seufzt einmal tief durch, hach ja, so isch halt, und dann Augen zu und durch. It´s for the Mami, äh, money!

1999 im Sommer wusste ich noch nicht, mit was ich irgendwann meine Kohle verdienen werde. Ich musste auf meine Vordiplomsprüfungen im Studienfach Physik lernen und fasste währenddessen den Entschluss, dass sich mit Experimentalphysik und Quantenmechanik intelligente Menschen befassen sollten.

Ein Studiumabbruch wiederum ist in manchem Elternhaus eher schwer vermittelbar, der Hochschulabschluss ihres Kindes für viele Erzeuger (böses Wort) alternativlos. Bei mir war das easy (wie Cro). Die legendären wie bis heute beflügelnden Worte meiner Mami kommen auf meinen Grabstein: „Egal was du machst, du wirst deinen Weg gehen. Das weiß ich.“ Da ich fest daran glaube, als Wal (weiß noch nicht welcher genau) wiedergeboren zu werden, passt das mit dem Weg auf dem Grabstein.

Jetzt sind wir schon beim Tod, was ist mit der Bilanz? Ich will es mal so sagen: Ich habe absolut kein Problem mit Montag. Das ist viel Wert. Bekanntlich hat fast die komplette (Industrie)Menschheit ein Problem mit Montag. Sybille Berg meinte dazu auf Twitter vor ein paar Monaten: „Es ist nicht der Montag, sondern euer Leben.“ Da mach ich einen Knopf dran. Oder wie Kollege Weh zu sagen pflegt: Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Leserbriefe bekommt man sehr selten. Vergangenes Wochenende habe ich einen von Gizem bekommen und mich sehr darüber gefreut: 

Halli hallo,

Ich dacht mir ich les jetz noch vorm schlafen re.flect durch. Auch dieses mal find ich dein Artikel klasse. Bloß dieses mal hat mich deine Einführung mit dem Zitat von Nas zu einem weiteren Gedanken gebracht, der mir seit langer Zeit gefehlt hat.

Bin zwar junge 20 und hab noch einige Jahre bis zur meiner Halftime. Aber da ich aufgrund meines Studiums nur noch über die Semesterferien bei meiner Fam bin, verbringe ich wenig Zeit mit ihnen. Deshalb ist mir durch die paar Zeilen  von dir nochmals klar geworden die Zeit mit der Familie noch mehr auszukosten. Und das aller erste was ich morgen früh machen werde ist meiner Mutti einen dicken Kuss zu geben 🙂

Sorry aber ich musste jetz wirklich diese Impulsmail an dich los werden :))) und Danke dir.

Peace

Join the Conversation

9 Comments

  1. says: afro-dieter

    Ich denk mir heut noch: Was macht der Physik-Nerd da an den Plattentellern? 😉 Spässle, gell!
    Bonbon-Text, du kannst dir schon mal selber gratulieren.
    Wann kommt das Buch?

  2. says: bernd

    Der treffende Gesellschaftskommentar v. ma.sMa etwas pralinenschachtelmässiger kürzlich in etwa so vernommen: „Die Mutter aller Arschlöcher ist immer schwanger“. Triffts auch ganz gut

Leave a comment
Leave a comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert