Schräggastroführer Stuttgart: Das literarische Herrengedeck

Viele Menschen mögen es, beim wöchentlichen Freigang mit Schmackes über die Stränge zu schlagen, doch nur Kenner wissen jene Art der Ausschweifung zu schätzen, in die sich gleichzeitig auch die Ahnung eines grausamen Endes mischt. Kommt man wie ich aus Pforzheim, trägt man das für immer in sich: Selbst wenn man aus Mitleid in einem VIP-Bereich auf ein Glas Veuve eingeladen wird, weiß man immer, dass man eigentlich ins 10 Biere im Stuttgarter Westen gehört.

Daher freute ich mich wie Bolle, als ich vor zehn Jahren für ein halbes Jahr in einer englischen Kleinstadt studieren durfte. Zwischen brutal starken Bookings in der Fabric, im 93 Feet East oder der Mother Bar war es immer wichtig, die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Daher hieß das Motto fast jeden Abend „last chance to get a drink“ kurz vor der Sperrstunde in einer Kaschemme.

Zurück in Stuttgart fehlten mir die ehrlichen Londoner Kneipen. Da passte es perfekt, dass mein bezaubernder Arbeitgeber LIFT mich künftig für betreutes Trinken bezahlen wollte: Ich sollte die Serie Schräggastro fortführen, bei der es darum geht, jeden Monat eine ausgewiesen ehrliche Pinte für das Stadtmagazin zu testen. Motto der Serie: Wir gehen dahin, wo Sie sich nicht hintrauen.

Die Kolumnenreihe war von den Dorfältesten bei LIFT kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erfunden worden, als Jungspund war das damals eine große Ehre, diese soziologische Studie fortführen zu dürfen. Dabei entwickelte sich in den folgenden Jahren ein wissenschaftliches Feld, das zu einem eigenen Leerstuhl an der Universalität Stuttgart, Institut für Trinkgeschichte geführt hat.

Vorläufiger Stand der Wissenschaft: Schräggastro ist viel mehr als Bierschwemmen, Schräggastro ist ein Lebensgefühl: Dieses Leben fühlt sich an wie ein Raum mit Holzvertäfelung, majestätischen Bierkronen, eiskalten Kurzen, Flachbildfernsehern und guter Unterhaltung auf Augenhöhe mit dem universalgebildeten Volksmund.

Wie nähert man sich dieser so rustikalen wie ehrlichen Welt am besten? Zu zweit bestreitet man die Ideal-Schlangenlinie, ab drei Schräggastro-Touristen kippt die Stimmung im Laden – ganz alleine hat man manchmal einfach nur Angst.

Die Schräggastro-Recherche gilt deshalb als Königsdisziplin des Journalismus, weil wir uns am nächsten Morgen nur noch schemenhaft an das Erlebte erinnern können. Früher fielen wir dadurch unangenehm auf, dass wir ständig irgendetwas in ein Moleskin kritzelten („Was schreibt ihr da?“ – „Den Einkaufszettel für morgen – Schnaps, Dosenwurst und Knäckebrot.“).

Heute haben wir eine eigene, selbst programmierte Schräggastro-App auf unseren Smartphones, in die wir all die Skizzen und Notizen hacken können, die uns auffallen, bevor wir hackedicht in die Nacht verschwinden.

Bei unseren investigativen Rechercheausflügen geht es übrigens nicht darum, sich über eine Randgruppe lustig zu machen. Erstens sind wir selber eine Randgruppe – Stichwort für immer Pforzheim im Herzen – zum anderen hab ich in den Kneipen dieser Stadt schon mehr gelernt als an anderen Orten, die weitaus trostloser sind, das Stuttgarter Rathaus etwa oder mancher VIP-Bereich.

In den Schrägi-Pinten hat man es mit echten Menschen, echtem Leben und echten Problemen zu tun. Man kann ungestraft zu den Scorpions auf der neuen 107,7 mitnicken, man kriegt am Tag der Arbeit einen Willi spendiert und man schnappt Sätze auf, auf die man in der eigenen Beschränktheit nicht gekommen wäre, „das ist ne Traurigkeit, die kannst du dir nicht vorstellen“, hat mir erst vergangene Woche ein Gast im Treff bei Anna in Heslach zugeraunt.

Recht hat er, der Kurt*, der früher im Sozialamt gearbeitet hat, heute in der Agentur für Arbeit schuftet und 50 Kippen am Tag raucht, um das ganze Elend namens Leben ein bisschen erträglicher zu machen. So eine Begegnung gibt mir meist mehr, als dämlicher Smalltalk im Club oder sonst wo. Wie gesagt: einmal Pforzheim, immer Pforzheim.

Die Texte über Schräggastro wiederholen sich natürlich etwas, die Getränke sind beständig (Herrengedeck), die Themen oft dieselben (VfB, Politik ist Scheiße, das Herrenpils von Hofbräu vom Fass aber ganz geil) und schließlich muss man immer aufpassen, dass die Sozialstudien nicht in Elendstourismus kippen.

Dennoch oder gerade deshalb haben wir uns entschieden, die LIFT-Serie nun auch in Buchform zu klatschen. Gemeinsam mit dem mittelständischen Familienunternehmen Edition Randgruppe haben wir ein Büchlein produziert, das vor allem durch das promille-dynamische Layout von Verleger Uli Schwinge besticht und dank der vielen guten Fotos, die Ronny Schönebaum und Marijan Murat geschossen haben.

Bei den Milieustudien stand mir oft mein Kumpel, Autor und Anwalt Thomas Lang zur Seite. Übrigens sehr zu empfehlen in Fragen des Arbeitsrechts, außerdem ist kürzlich sein erster Roman erschienen mit dem viel versprechenden Titel „Endstation Kuschelparty“, in dem die Geburtstagsparty vom Geiger vergangene Woche beschrieben wird.

Das Buch ist angelegt als eine Marco-Polo-Reiseführer-Verarsche mit Stadtteiltouren, Points of Interest und tollen Icons wie der Pilskrone der Schöpfung usw. Staunt also gemeinsam mit uns, dass das Feuerwasser in Feuerbach flussaufwärts fließt, trinkt ohne Muffensausen in Zuffenhausen und taucht ein in die Zonenrandgebiete der Lebensqualität Hedelfingen, Cannstatt und Co., wo Stuttgart so pittoresk daherkommt wie das Ruhrgebiet an einem romantischen Frühlingstag.

Die Broschüre zur Steigerung der individuellen Lebensqualität wird am kommenden Freitag, 11. Mai ab 20 Uhr von den schrägest boys alive vorgestellt im Schauraum Waschstraße in der Türlenstraße 2 in S-Nord. Wer mir das Stichwort literarisches Herrengedeck zuflüstert, bekommt einen Ouzo aufs Haus. Sehr zum Wohl sein.

(*Name von der Redaktion geändert)

Schräggastroführer Stuttgart
erschienen in der Edition Randgruppe für 12,90 Euro
Am besten direkt hier bestellen
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24 Comments

  1. says: JMO2

    Nur zu empfehlen das Buch! Auch Nicht-Kenner der Materie werden sich unterhalten fühlen.

    Übrigens, der „Stern“ am Gaskessel wird wohl ebenso wie die Schwesterkaschemme „Rhodos“ wohl demnächst platt gemacht, der Stadtentwicklung wegen

  2. Auf 107,7 zu den Scorpions nicken – jetzt habe ich einen Ohrwurm. Von dem Satz.
    Nimm das – die Playlist von heute

    12:47 BON JOVI LIVIN‘ ON A PRAYER
    12:44 R.E.M. LOSING MY RELIGION
    12:41 MANFRED MANN THE MIGHTY QUINN
    12:38 BONNIE TYLER TOTAL ECLIPSE OF THE HEART
    12:35 GREEN DAY BOULEVARD OF BROKEN DREAMS
    12:31 AC/DC YOU SHOOK ME ALL NIGHT LONG
    12:22 QUEEN SOMEBODY TO LOVE
    12:19 KID ROCK ALL SUMMER LONG

  3. says: Thorsten W.

    Ich hab zwei Mal (zwei Mal!) bei der internen 107,7-Feier zu den neuesten Einschaltquoten aufgelegt. Den Rest kann man sich denken.

    Ansonsten: Der Artikel ist doch nur Werbung! Echt schwach von Kessel.TV, ich kündige mein Abo. Tschüss.

  4. says: vanDamme

    Endlich geht´s mal wieder um Stuttgart – dieses Literatur-Event der Woche lass´ ich mir nicht entgehen! Aussi, mach schon mal ne Pfütze klar!

  5. Martin: „The Straits: Former members of Dire Straits perform the band’s greatest hits.“ 2nd June – Stars of Sound Festival, Aarberg, Switzerland.

    Und wenn du bittebitte sagst, vielleicht am Freitag in der Waschstrasse aus der extra eingeflogenen Jukebox des Sportcafés Carambolage.

  6. says: martin

    möchte noch anmerken, dass mir der * beim Veranstaltungsflyer besonders gut gefällt. muss ich jedes mal lachen (aber wirklich nur wegen der fußnote und nicht wegen rücksäcken oder so)

  7. says: Benni

    Schönes Heft. Mag ich echt gerne.

    Grad nen Schauer beim Bild vom Lucky Punch bekommen. Was ne herrliche Kneipe das war. Wurd angeguckt wie ein Zivibulle als ich das erste Mal reingeschnuppert hab. Attila wie ein Indianer mit zwei Miezen rechts und links auf der Bank, und die Bedienung mit „Property of Attila“-Tattoo. Und überall Rene Weller Fotos. Hach.

  8. says: LKTRSNDY

    Ich werd mir das Buch auf alle Fälle holen. Endlich mal was darüber, wie Stuttgart wirklich tickt äh trinkt… ihr wisst schon. Dieses komische Gefühl, diese Beklemmung in solch eine Lokalität hereinzutreten und alle Gespräche verstummen auf der Stelle, ist schon irgendwie besonders. Wart ihr auch im Rössle in Heslach? 😉

  9. says: Robby

    Attila und Rene 20 Jahre Knast zusammen.

    Benni: Die Frau mit den Tattoos ist Attis Ex-Frau… Die Hochzeit muss, laut den Bildern, episch gewesen sein 😀

  10. @ Robby: Das sind nur vier Jahre Knast bei den Jungs, ich war ihr Bewährungshelfer.
    @ Jana: Yes! Pforzelona for life.
    @ Van Damme: Freu mich voll auf dich!
    @ LKTRSNDY: Im Rössle waren wir noch nicht, dafür in Heslach im Treff bei Anna mit schöner Wandmalerei, im Kneiple, das leider gerade renoviert und danach bestimmt ein Casino wird, in der Funzel, meinem Lieblingsladen in Heslach, in der Sakristei, das ist für Fortgeschrittene und im leider mittlerweile verblichenen Seemannskneiple. Prosit.

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