Kolumne für SSB: Gehen wir auch morgen noch spazieren?

Dieser Text für das neue Online-Magazin „Das Ticket“ von der SSB entstanden und greift den Pandemie-Hype Spaziergehen auf.

„Nach dem Essen machen wir einen Spaziergang!“ Während unserer Adoleszenz schrillten bei dem S-Wort sämtliche Alarmglocken. Oh ne, JETZT mit den Eltern stundenlang im Wald herumlaufen, wie langweilig und peinlich ist das denn bitte!?

2020/2021 ist alles anders. Dank Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperre ab 20 Uhr wurde der (tägliche) Spaziergang generationsübergreifend neu entdeckt. Ein regelmäßiger Rundkurs per pedes ist aus vielerlei Gründen (Beine vertreten, raus aus dem Haus, ein bisschen Abwechslung, das Mindset neu justieren, was soll man auch sonst tun) die Hype-Tätigkeit der Stunde. Endlich, möchte man sagen.

Denn es ist unumstritten: Zu Fuß erforscht man die Umgebung am besten, sei es die Natur oder urbane Gefilden. Nicht auf dem Fahrrad und schon gar nicht mit dem Auto. Die/der Fußgänger*in ist immer noch die/der beste Entdecker*in. Da kann man auch hochschauen. Wird im Auto schwierig.

#lookingup ist ein beliebter Hashtag auf Instagram. Das Aufschauen ist neben der Umschau ein essentieller Bestandteil einer Spaziergangroutine. Genauso wie spontan stehenbleiben (wird auf dem Rad schon relativ schwierig). Eine Infotafel im Wald durchlesen. Die Herkunft des Straßennamens überprüfen. Streetart-Check. Nach links abbiegen anstatt wie sonst immer rechts. Neue Wege und Straßenzüge erforschen. Bis man auf einmal – wie in einem Computerspiel – ein neues Level in seiner eigenen Stadt erreicht. Wow, wie großartig ist es denn hier bitte! Oder um es klinsmännisch zu sagen: „Gefühle wo man schwer beschreiben kann.“

Gefühl ist das Stichwort: Die (vielen neuen) Spaziergänger*innen bekommen ein (neues) Gefühl für die Dimensionen ihrer Stadt und realisieren (jetzt erst), was ihre Stadt alles zu bieten hat. Vielleicht auch, weil man vor der Karriere als Flaneur in einem sehr engen Koordinatensystem feststeckte – zwei Stammbars, ein Supermarkt, zwei Haltstellen.

Gerade für das Selbstwertgefühl etlicher Stuttgarter*innen könnte das sehr wichtig sein. Denn das ewige Vorurteil, man sei ja nur ein „Dorf“, wird spazierenderweise nach links weggewischt wie der letzte belanglose Dating-Tipp auf Tinder. Denn ein Dorf ist in wenigen Minuten durchschritten. Die Metropole Stuttgart garantiert nicht. Selbst alteingesessene und geborene Stuttgarter entdecken zu Fuß ihre Stadt immer wieder neu.

Einige Dinge, die wir uns in dieser Ära angewöhnen, werden uns noch lange begleiten. Auch der Spaziergang wird bleiben. Aus sehr vielen genannten Gründen. Wenig spricht dafür, dass es eines Tages heißt: Wisst ihr noch, als wir damals alle spazieren waren?“ „Ja, das war sehr schön.“ Also raus und los!

P.S.: Am meisten Spaß macht ein Spaziergang weit abseits von der berühmten „Volkswanderung“, wie z.B. am Bärensee. So bleibt man sicher auf Abstand, offen für neues und schont die ausgetrampelten Pfade. Physisch wie psychisch. Apropos noch ein „Geheimtipp“: Wernhaldenpark.

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